Vierzigste Geburtstage geben Gelegenheit zum Rückblick auf die zurückliegenden Mühen der Ebenen und unbedingt auch zum Blick nach vorn auf die noch zu erreichenden Gebirge.
Es kann sein, dass in den 1980er- Jahren im Musikbetrieb eine günstige Zeit für Neues angebrochen war, eine Zeit der Ungeduld und der aufgestauten Veränderungsbestrebungen, die an verschiedenen Stellen des Betriebs zu einem deutlichen Impuls zusammenwuchsen. Das 1974 gegründete Bundesstudentenorchester, das sich bald in Junge Deutsche Philharmonie umbenannte und eine demokratisch strukturierte Selbstverwaltung installierte, war ein Vorbote. Als eine Untergliederung dieses Orchesters fand sich 1980 das Ensemble Modern zusammen. Anlass war eine Aufführung von Arnold Schönbergs Kammersinfonie beim Deutschlandfunk. Das dafür benötigte Ensemble wurde – zuzüglich Schlagwerk und Klavier – zugleich zur Blaupause des Solisten-Ensembles, das sich in einem debattenreichen Prozess selbst in die Welt setzte.
Zwei Jahre später spielte es bei Berliner Festspielen und bei den Frankfurt Festen der Alten Oper das Gesamtwerk Weberns und zog 1985 nach Frankfurt, wo es zusammen mit der Jungen Deutschen Philharmonie und dem gemeinsamen Dachverband, der Deutschen Ensemble Akademie, ein Haus in der Schwedlerstraße im Osten der Stadt bezog. Es wurde ein Energiezentrum der zeitgenössischen Musik und ist es immer noch. Um diese Zeit wandelte sich das Ensemble Modern in eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts und schrieb in einem Gesellschaftervertrag die Regeln fest, nach denen es seither arbeitet.
Die meisten von denen, die am Anfang dabei waren, haben sich mittlerweile in die vier Winde des Musikbetriebs verstreut als Agentur-Inhaber, Solisten, Kammermusiker, Dirigenten. Im Ensemble Modern selbst ist Dietmar Wiesner, Flötist, der letzte verbliebene Veteran. Alle anderen sind später eingestiegen und haben, auf Grundlage der gemeinsamen Regeln, für eine permanente Verjüngung gesorgt. Eine der Voraussetzungen für diesen Prozess war die Gründung der Ensemble Modern Akademie vor nun auch schon wieder 17 Jahren. Und vergessen wir nicht das eigene Tonträgerlabel „Ensemble Modern Medien“, das allerdings, wie die meisten Betriebe der Tonträger-Branche, faktisch wohl ein Non-Profit-Unternehmen ist. Das alles zusammen macht zu Recht den Eindruck eines wohlorganisierten, effektiven Betriebes; allerdings gibt es eine kleine Kollektion dauerhafter Probleme, die die Arbeit zuweilen belasten.
Dass Stiftungen, mit denen das Ensemble seit je fruchtbar und verlässlich zusammen arbeitet, in der nicht endenden Niedrigzinsphase oft weniger Geld zur Verfügung haben, ist ein Teil davon. Dass die Arbeit des Ensembles dennoch immer wieder halbwegs gesichert erscheint, hängt mit einem kompetenten und erfahrenen Management und einer effektiven Selbstorganisation zusammen wie auch mit dem internationalen Renommee und der Flexibilität der Ensemble-Mitglieder.
Immer offen für Aktuelles
Niemand beschwert sich hier über die Rahmen- und Arbeitsbedingungen. Man ist daran gewöhnt, dass nur ein geringer Teil der Kosten aus institutioneller, also verlässlicher Förderung gedeckt ist, der Löwenanteil des Etats aber aus Projektförderung und eigenen Einnahmen generiert werden muss. Das bringt seit je die Herausforderung mit sich, die eigenen Organisationsstrukturen schlank zu halten, kreativ zu bleiben und – eine der Regeln aus den Anfangsjahren – immer offen für Aktuelles zu bleiben. Andererseits ist dieser Betriebswirtschaftssprech auch nicht immer hilfreich. Nach vier Jahrzehnten mit Aufsehen erregenden, originellen Projekten, nach einer endlosen Kette von Beweisen für Kompetenz, Kreativität und Sparsamkeit, dazu mit diesem einzigartigen internationalen Ruf – wäre es da für die Mitglieder des Ensemble Modern nicht angemessen, wenigstens Musikern eines B-Orchesters wirtschaftlich halbwegs gleichgestellt zu sein? Aber, wie gesagt, niemand in der Schwedlerstraße beschwert sich. Der Preis der Freiheit war allen von Anfang an klar.
An den Anfang des Geburtstagsjahres 2020 hatte das Ensemble Modern ein in mehrfacher Hinsicht exemplarisches Konzertprogramm gesetzt, das den Titel „Eins plus alle“ trug und eindrucksvoll vorführte, wie sehr jedes Ensemble-Mitglied auch Solist/-in ist und dazwischen keinen Widerspruch sieht, sondern eine Erweiterung des eigenen Handlungsraums.
Vielleicht aber war auch das Frank-Zappa-Konzert des Ensembles im Dezember in der Alten Oper schon ein Vorgeschmack auf den Rückblick. Da ging es immerhin um das spektakulärste Crossover-Projekt in der an spektakulären Crossover-Projekten nicht gerade armen Geschichte des Ensembles, das sich rühmen kann, Frank Zappas letzte Band gewesen zu sein.
Das Eins-plus-alle-Konzert begann mit Werken von Enno Poppe und Hans Zender. Wobei der 2019 verstorbene Hans Zender unter den älteren Vertretern der Avantgarde derjenige war, der das Ensemble von Anfang an freundschaftlich und künstlerisch begleitet hat und an der Erfindung der Gesprächskonzertreihe „Happy New Ears“ beteiligt war, in der das Ensemble fast seit Menschengedenken mit der Oper Frankfurt kooperiert.
Viel „Holz“
Zenders „Issei No Kyo“ für Sopran, Ensemble und obligate Piccoloflöte war das von Umfang und Horizont gewichtigste Stück des Abends, eine philosophisch-musikalische Reflexion, mehrsprachig, vielstimmig, meditativ. Enno Poppes „Holz“ (2000) für Klarinette und kleines Ensemble erschien dagegen wie ein Meilenstein des Übergangs zur neueren Geschichte der Musik-Avantgarde. Vergleicht man die anderen Werke dieses Konzertabends, die von Komponistinnen und Komponisten mit Geburtsjahren diesseits der 1970 stammten, gibt es deutliche Veränderungen, vielleicht gar einen Paradigmenwechsel zu verzeichnen – ablesbar auch an der Zunahme von Schlag- und Rhythmusinstrumenten und einer damit einhergehenden Veränderung in den narrativen Strukturen der Musik.
Es kann sein, dass die Bewegung im Musikbetrieb, in deren Anfängen das Ensemble Modern entstand, auf die Musik selbst nachhaltigen Einfluss genommen hat. Immerhin waren Komponist/-innen in den 1970er-Jahren zuweilen genötigt, für Orchestermusiker zu komponieren, die auf spieltechnische und klangliche Zumutungen mit schlechter Laune reagierten. Dass Komponist/-innen, die mit Musikern arbeiten können, die die Musik zu ihrer eigenen Sache machen und keine Spieltechnik und keine zusätzlichen Probendienste scheuen, zu anderen Haltungen und Ideen kommen, liegt auf der Hand.
Elena Mendozas „Zwei Szenen“ jedenfalls erweiterten das Bühnengeschehen um diskrete, präzise geplante szenische Anteile. Blai Solers „Off the String“ ist eine Art Violinkonzert, das ein gerechteres Verhältnis zwischen dem vorzüglichen Solisten (Violine: Jagdish Mistry) und dem Ensemble-Klang herstellte als im romantischen Violinkonzert mit großem Orchester. Vito Zurajs „Runaround“ nimmt ein ganzes Blechbläserquartett als Solisten, nutzt deren improvisatorische Bereitschaften und Fähigkeiten und beantwortet bejahend die Frage, ob es Humor in der Musik geben kann, die ihre Seriosität nicht untergräbt.
Für sein Jubiläums-Jahr hat sich das Ensemble einiges vorgenommen. Der Plan besteht aus acht Kapiteln, deren erstes das erwähnte doppelte Auftaktkonzert mit der Nummer null war. Nummer eins sind Aufführungen von Gérard Griseys monumentaler Komposition „Les espaces acoustiques“. Unter dem Titel „Multitasking“ kommt es zur Wiederaufnahme von Heiner Goebbels’ „Schwarz auf Weiß“, der international erfolgreichsten Musiktheater-Produktion des Ensembles. Die Arbeit an Veränderungen in der sozialen, räumlichen und performativen Situation zwischen Künstlern und ihrem Publikum stellt Arbeiten von Ashley Fure und Simon Steen-Andersen in den Focus.
Mit dem Komponisten und improvisierenden Posaunisten George Lewis als Kurator und dem Dirigenten Vimbayi Kaziboni gibt es das Zwei-Städte-Projekt (in Essen und Frankfurt) „Composers of Color“, in Frankfurt ergänzt um ein begleitendes Symposium. Webern wird unter Leitung von Enno Poppe in einen Kontext mit den Arbeiten zeitgenössischer Komponisten gestellt, und im Sommer 2021 gibt es im Rahmen der Bregenzer Festspiele eine Musiktheater-Produktion von Brigitta Muntendorf und – Kapitel sieben – im Dezember einen Abend unter dem Titel „Beschenkt“ mit Miniaturen einer stattlichen Zahl von Komponisten, die das Ensemble begleitet haben.
- Aktuelle Termine mit dem Ensemble Modern: Gérard Grisey, „Les espaces acoustiques“ (31. März: Berliner Philharmonie, 29. April: Elbphilharmonie Hamburg, 1. Mai: Kölner Philharmonie)
- www.ensemble-modern.com