Mir begegnete Johannes Wallmanns Musik erstmals bei dem Berliner Festival Kryptonale 1999, das in den Wasserspeichern Prenzlauer Berg stattfand und sich der Musik im Raum, live gespielt oder als multimediale Installation, kurz, der Klangkunst widmete. Damals blickte Wallmann auf eine produktive Schaffenszeit zurück, in der er sich bereits in den 1970er-Jahren – zum Beispiel in Synopsis (1978) für Kammerensemble mit Diaprojektionen von Bildern Kurt W. Streubels – um die Verschmelzung verschiedener Sinneseindrücke bemühte.
Wallmann, der bis 1988 in der DDR lebte, ehrte Streubel mit mehreren Werken als seinen geistigen Mentor. Die für sich genommen bescheidene Kryptonale präsentierte auch Material seines monumentalen Landschaftsklangprojekts „Klangfelsen Helgoland“. Man staunte.
Hier war ein Künstler, der die üblichen Dimensionen des Musikmachens, des Raumes und der Wahrnehmung sprengte; einer, der nicht nur Konzepte schuf, sondern sie auch verwirklichte. Das stellte ihn in eine Reihe mit Christo, den Reichstagsverhüller, und Richard Wagner, die, wie Wallmann, große Kommunikatoren und Organisatoren ihrer Ideen waren. Weitere Werke, in denen Wallmanns Vorstellungskraft und Organisationstalent aus etwas für maßlos Gehaltenes zu für alle Beteiligten unvergesslichen Erlebnissen führte, waren das „Glockenrequiem“ für 129 Kirchenglocken in Dresden (1995) oder die Verwandlung des Wörlitzer Parks durch „voneinander weit entfernte Vokal- und Orchestergruppen“ in ein modernes Arkadien (2004). Mit solchen großen, schwellenlosen Projekten hat Wallmann vielen Menschen auch das Tor zur Neuen Musik aufgestoßen. Hinter alldem stand aber nicht nur eine großartige Phantasie, sondern ein alle Lebensbereiche umfassendes Konzept, das Wallmann als „Integrale Moderne“ (Pfau Verlag 2006) bezeichnete, seine Werke als Integral-Art, und wo er Kunst, geistige und physische Existenz, Gesellschaft und Natur nicht nur als gegeben hinzunehmende Einheit, sondern als Gegenstand bewusster und verantwortungsvoller Gestaltung beschrieb. Als eine Gestaltung, die der Kräfte Aller bedarf.
Wallmann, 1952 als Pfarrerssohn in Leipzig geboren, was heißt, dass er nicht alternativlos der SED-Version marxistischer Ideologie ausgesetzt war, outete sich schon während seines Kompositionsstudiums als Bewunderer Arnold Schönbergs, des Weimarer Bauhauses und als Befürworter des Prager Frühlings, was dazu führte, dass er 1973, 21-jährig, wegen „spätbürgerlicher Dekadenz“ vom Studium ausgeschlossen wurde. In Meiningen und Weimar arbeitete er als Fagottist und gründete 1975 die „Gruppe Neue Musik Weimar“, die neben neuen Werken von teils durchaus renitenten DDR-Komponisten auch die westeuropäische Avantgarde zu Gehör brachte. Wenn ein totalitärer Staat die großen Talente nicht unterdrücken kann, beginnt er, sie zu umwerben: 1980 erhielt er den Hanns-Eisler-Preis des Rundfunks der DDR. Später sollte Wallmann diese Schmeicheleien als Manipulation durchschauen; der kulturpolitisch begründete Ausreiseantrag für seine vierköpfige Familie führte 1986 zu einer zweijährigen sozialen Ausgrenzung inklusive Zersetzungsmaßnahmen nach allen Regeln der Stasi-Kunst und schließlich zur Ausreise nach Westdeutschland 1988.
In den Wuppertaler Jahren bis 1995, als er nach Berlin zurückübersiedelte, entwickelte er mit Schwung das Konzept einer „vertieften interdisziplinären Zusammenarbeit“, indem er „Bauhütte Klangzeit Wuppertal“ gründete, sowohl zum Zwecke eines „integralen“ Zusammenwirkens von Kunst, Wissenschaft und Philosophie, als auch zur Vorbereitung eines internationalen Klangkunst Festivals (des ersten in Deutschland) im öffentlichen Raum, das 1992 stattfand.
Das Hören ist der Umgebungssinn schlechthin. Während das Auge fokussiert, kann das Gehör gleichzeitig Eindrücke von allen Seiten, von sichtbaren und dem Auge verborgenen Quellen wahrnehmen. Klangkunst bedeutet die ästhetische Emanzipation dieses existentiellen Hörens. Wie aber kommt Wallmanns eindringliche Musik, deren schiere Schönheit der schmerzlichsten Klänge fähig ist, zu dieser allumfassenden Wahrnehmung? Hier, so denke ich heute, beginnt der Weg Wallmanns steinig zu werden, denn was er von seinem Publikum verlangte, übertraf die Herausforderungen auch der radikalsten Avantgarde der neuen Konzertmusik in vieler Hinsicht. Die Fokussierung auf die Bühne musste aufgegeben werden. Wallmanns sprachbegabte Musik redete also von vielen Seiten – eine Überwältigung. Hilfreich war es bei „Ich schweige nicht“, ein Zyklus auf Texte von Jürgen Fuchs, der ebenfalls schwer unter der staatlichen Verfolgung in der DDR zu leiden hatte, auf die Musik begleitende Bildprojektionen schauen zu können, die dem emotionalen Gehalt der Musik Situationen gelebten Leidens anheftete. Die Räumlichkeit der Musik schaffte so ein Abbild jenes Gefühls, das die Opfer staatlichen Terrors als ihren unentrinnbaren Alltag erleben müssen. Auch Wallmann kannte solchen Alltag aus Kontrolle, Gängelung und Sanktionen. Nach seiner glücklichen, produktiven ersten Zeit im Anschluss an seine Übersiedlung in den Westen holte ihn das ein. In seinem Buch „Die Wende ging schief“ (Kadmos, 2009) beschrieb er eindrucksvoll die Geschichte seines systematischen Bedrängtseins, ebenfalls ein Werk, das wie die Komposition „Ich schweige nicht“ oder auch der Reiner-Kunze-Zyklus „Der Blaue Vogel“ (2010) vergangenes Leid als Warnung für die saturierten Heutigen gegenwärtig macht.
Viel Mühe hat es Wallmann gekostet, die Vorgänge und Personen, die zu seiner Entrechtung beigetragen haben, offenzulegen und noch lange nach der Wende gegen Ehrungen von ehemaligen SED-Kulturfunktionären wie 2014 Hans Pischner vernehmlich zu protestieren und an die „Verbrechen des Realsozialismus“ (Wallmann) zu erinnern. Keine heile Welt, auch nicht nach der Wende. Indem Wallmann sein persönliches Schicksal öffentlich macht, schafft er aber letztlich ein Bewusstsein für die Bedingung des „Anhörens“ seiner Musik. Und nicht all seine Werke sind explizit politisch: Das „hörgeleitete musikalische Selbstorganisationsspiel“ für 4 bis 12 weit voneinander entfernte Klarinetten oder Sopransaxophone „Gleich den Vögeln“ (1986/92) wird zu einer Huldigung der Natur, schon weil es ein Element der Unvorhersehbarkeit in sich birgt. Interesseloses Wohlgefallen (Kant) an der Idee eines vielstimmigen freien Schweifens im unentwegten Wechsel von klanglichen und melodischen Beziehungen darf die Lauschenden bei den fünf Instrumentalkonzerten „solo – univers“ (2010) durchaus befallen. In einer Zeit, wo die Verantwortung für den Ausgleich zwischen Natur und Gesellschaft Regierungsagenda geworden ist, dürfte die leid- und freudvolle Musik Wallmanns noch mehr freundliches Gehör finden und als eine ernste Fanfare zum Aufbruch blasen. Am 23. Februar feiert H. Johannes Wallmann in Berlin seinen 70. Geburtstag.