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Auf einer Straße kommen uns 9 nebeneinanderer laufende Musiker:innen beziehungsweise Künstler:innen in Alltagskleidung entgegen. Sie sind mit E-Gitarre, Trompete, Querflöte, Mallet-Schlägel und Tambourin bewaffnet

Farbenfroh und couragiert: Ensemble Colourage. Foto: Christian Kleiner

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Ensemble Colourage

Untertitel
Künstlerisches Handeln als Leitbild für den interkulturellen Dialog
Vorspann / Teaser

Wie kann künstlerisches Handeln zum Leitbild für den interkulturellen Dialog und ein daraus abzuleitendes gesellschaftliches Handeln werden? Auch für künstlerische Weltzugänge gilt, dass soziale Begegnungen nur möglich sind, wenn man ohne ein festes Ziel und in großer Offenheit dem anderen gegenübertritt. Solche Erfahrungen beginnen experimentell, ohne lange Berechnungen, in offenen Entwicklungen aus dem Gegebenen. Was manchen ausschließlich reproduzierenden Musikern in ihrer Kunst fremd erscheint, beschreibt genau die Arbeit des Ensembles Colourage. Der Maler Gerhard Richter hat dies für den in der bildenden Kunst nahezu selbstverständlichen Kompositionsprozess einmal so formuliert: „Ich möchte am Ende ein Bild erhalten, das ich gar nicht geplant hatte. Ich möchte ja gern etwas Interessanteres erhalten als das, was ich mir ausdenken kann.“

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„Jede Nation“, so schreibt Johann Gottfried Herder in seiner Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774), „hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!“ Dieses einschneidende und höchst folgenreiche Kugelmodell der Kulturen hat eine langanhaltende Karriere gemacht, deren Wirksamkeit bis in unsere Gegenwart fortdauert und sich in ihren neorassistischen und nationalistischen Grundmustern zeigt. Auch wer heute von Multikulturalität oder Interkulturalität spricht, stimmt dem implizit zu: Versuchte Koexistenz ist zwar kein gelebter Kulturaustausch, aber immerhin steckt auch das lateinische Wörtchen „zwischen“ drin – und so klingt alles tolerant, aufgeschlossen und gut. Wir reichen einander auf Fes­tivals und in Crossover-Projekten die Hand, genießen hier exotisch anmutende Speisen und kehren dann in unseren Alltag zurück, um in den sicher verschlossenen Kugeln weiterzuleben. Doch solange wir heute noch von einer Leitkultur sprechen wollen, bleibt spürbar, dass Herders Kulturmodell in unserer Gesellschaft mehr als nur unterschwellig weiterlebt. Bereits Adorno kritisierte, wie das „vornehme Wort Kultur“ ein „Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch bleibt.“ Auch wenn unserem Hochkulturbetrieb ein Glaubwürdigkeitsproblem unterstellt wird und er von einer meinungsbildenden Elite längst nicht mehr genutzt wird, die mittlerweile eine kulturelle Basisbildung für alle Bevölkerungsschichten gar für verzichtbar erklärt, werden ausgerechnet diese Stimmen laut, will man ihren normativen Kulturbegriff, der gerne einen festlichen Kontrast zur Alltagsroutine verspricht, in Frage stellen. Wo, wenn nicht im Sinfonieorches­ter, ließe sich heute noch ein geeigneter Ort für solch ein in sich geschlossenes, elitäres System vermuten, eine Kulturkugel, die zwar Menschen verschiedenster Nationalitäten beherbergt, wobei aber allein ein komplexes Auswahlverfahren dafür sorgt, dass die Kugel der gleichmäßigste aller geometrischen Körper und das System ein homogenes bleibt? 

Die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz fühlt sich seit über 100 Jahren als musikalische Botschafterin ihres Landes und Ludwigshafen ist der Ort, aus dem die Musik zu den Menschen gebracht wird. Hier möchte man solchen Vorurteilen gehörig widersprechen: Aus diesem Orchester heraus und in Kooperation mit der Orientalischen Musikakademie Mannheim und der Pop­akademie Baden-Württemberg gründete sich 2020 das Ensemble Colourage mit seinen ganz besonderen Botschaften, die sich mit bisherigen Begriffen des inter- oder transkulturellen Dialogs nur unzureichend beschreiben ließen. Vielleicht sind es die geographischen Koordinaten eines Ortes, an denen die Schlüsselfragen und Spannungsfelder um Migration und Integration besonders sichtbar sind. Ganz sicher aber ist es die Intendanz der Staatsphilharmonie, die Kreativräume für jene neuen Wege öffnet, die 200 Jahre nach Goethes West-östlichem Divan endgültig aus diesen metrischen Räumen der Kulturkugeln hinausführen. Doch bleibt es hier nicht wie bei Goethes Spätwerk in neugierigen Arabeskenspielen, in Begegnungen mit dem Fremden, die dann zum Selbst führen möchten, stecken.

Für alle, die sich dem Projekt Colourage verschrieben haben, sind die drei Begriffe, aus denen der Ensemblename sich speist, Programm: Courage ist erforderlich, um sich mit Unerschrockenheit und Beherztheit von einer gewohnten musikalischen Praxis zu lösen und sich dem Neuen mit Mut öffnen zu können. Colour braucht es, um neue Ideen mit Eigenem zu färben, mit Kolorit eine Atmosphäre zu schaffen, aber auch, um unter der Colour of music Flagge zu zeigen. In einer Collage wird dann aus verschiedenen Elementen ein neues Ganzes geschaffen. 

Auch wenn dieser Kurzbericht bereits eine leise Ahnung von der Probenarbeit des Ensembles vermittelt hat, lässt es sich nicht hinlänglich in Worte fassen, wie schwer es fallen mag, sich von den eigenen Identitäten zu lösen, wo bisher doch alles Musizieren aus einem feilzubietenden Urtext erwuchs. Nun gilt es, sich herausfordernden Tonsystemen zu öffnen, eigene Ideen zu verfolgen, um dann in dem beglückenden Gefühl aufzugehen, etwas Neues zu schaffen, gar eine eigene Komposition zu entwickeln. 

Unter Interkulturalität versteht man das Aufeinandertreffen zweier Kulturkugeln, die sich auflösen, wo die eigenen Identitäten und Prägungen wechselseitig erfahrbar werden. Colourage überschreitet diesen Interaktionsprozess, weil es hier nicht nur darum geht, die Pluralität verschiedener Praxen anzuerkennen. Vielmehr gilt es, aus der Musik in ihren verschiedenen Lebensformen heraus etwas ganz Neues entstehen zu lassen. 

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