Dass einen musikalische Erlebnisse schon in der frühesten Kindheit prägen, davon kann der Filmkomponist, Jazzer und Arrangeur Hans P. Ströer ein Lied singen. Kaum konnte er in seinem Gitterbett stehen, spielte ihm sein Vater, der Beamter und Hobby-Musiker war, abends nach der Arbeit Zigeunerweisen auf der Geige vor, wobei der regelmäßig einschlief „in der einen Hand die Geige, in der anderen den Bogen“. Und auch der viermal pro Jahr in der Wohnung stattfindende Quartett-Abend hat den Steppke tief beeindruckt: „In einem kleinen Raum in unmittelbarer Nähe eines solchen Quartetts – das ist ein Live-Klangerlebnis, das muss man erlebt haben.“ Ursula Gaisa sprach mit dem Emmy-Gewinner.
Ströers Karriere wurde und wird bis heute immer noch von solch fast wundersamen Begegnungen und Zufällen geprägt. Als junger Beatles-Fan verwandelte er mit Hilfe eines primitiven Tonabnehmers und eines Radios seine erste Wandergitarre in eine E-Gitarre, parallel dazu durfte er bereits in der ersten Grundschulklasse einen Zusatzkurs in Gehörbildung besuchen: „So lernte ich schon früh, was eine Quinte, was eine Oktave ist. Davon profitiere ich, glaube ich, heute noch ungeheuer.“
Mit elf wollte er eine eigene Band, weil er es leid war, nur immer allein Beatles-Lieder nachzuspielen und mobilisierte Mitschüler. Der unsportliche schlaksige Junge, der die Kletterstangen nie hochkam, war plötzlich anerkannt, in Sachen Musik konnte ihm keiner das Wasser reichen. Für seine ersten Bands begann er bereits selber Stücke zu schreiben, und mit 14 begann sein erstes „Parallelleben“: Neben dem wilden Jimi Hendrix faszinierte ihn auch die Könnerschaft, das Virtuose und Raffinierte von Jazzern wie Cannonball Adderley oder neuerem Big Band Jazz. „Es war aber nie so, dass ich das eine wegen des anderen hätte aufgeben wollen, mir hat beides Spaß gemacht und ich war froh, dass ich mich an beidem bedienen konnte.“
Schlüsselfigur wird ein Musiklehrer am Gymnasium, „ein wilder Hund“, der seine Schüler in einem ausgedienten Fahrradkeller Sessions statt theoretischen Unterrichts abhalten ließ und Noten nach Beherrschung eines Instrumentes verteilte. Er verschaffte Ströer auch seine ersten „richtigen“ Auftritte: Er engagierte das junge Talent für sein Jazztrio, das in Ami-Clubs spielte –, aber auch auf Hochzeiten, „das waren oft Situationen wie in einem Fellini-Film.“ Den mittelständischen Beamteneltern ist die Sache nicht ganz geheuer, wenn schon Musik, dann soll der Junge wenigstens Schulmusiker werden. Doch eine weitere Begegnung stellte andere Weichen.
Besagter Lehrer war nämlich ganz nebenbei noch musikalischer Leiter einer Dreigroschenoper-Produktion am Münchner Residenztheater unter der Regie von Marty Freed und George Talbori und engagierte das junge Talent. Ströer musste schnellstens Akkordeon und Banjo lernen. Die Inszenierung wurde ein Riesenerfolg, mit in der Band dabei waren unter anderem Frank St. Peter, Lee Harper, Johannes Faber, Hanusz Berka, Tod Kennedy – und Bobby Jones. Ströer macht zum ersten Mal Bekanntschaft mit einem waschechten Jazzmusiker: „Zu einer Probe kommt da so ein dürrer eingefallener Typ und trägt auf dem Kopf einen Lampenschirm und in der Hand eine alte Konservenbüchse voll Schleim. Ich war fasziniert.“ Jones schien aber auch von Ströer beeindruckt gewesen zu sein, denn er gründete bald darauf mit Lehrer und Schüler ein Jazz-Trio.
Davon abgesehen, dass sich Ströer plötzlich Jazzstandards, von denen er bis dahin „keine Ahnung“ hatte, aneignen musste, hat ihn ein Erlebnis ganz anderer Art in dieser Zeit tief beeindruckt. Vor einem Auftritt ging man gemeinsam zum Essen: „… und Bobby hat nichts gegessen, nichts bestellt, ich mir ein Steak. Und da schaut er mich so an, und schaut so auf mein Essen. Ich kam gar nicht auf die Idee, dass der vielleicht kein Geld hat, um sich ein Essen zu bestellen. Dann fragte ich ihn: ‚Bobby, why don’t you eat?‘ Und er sagte nur: ‚Can I have a piece of your meat?‘ Dann ist mir das erst aufgefallen... Ich kam aus einer völlig anderen Welt. Das hat mich wahnsinnig schockiert, das habe ich bis heute nicht vergessen.“
Eines Abends saß im Publikum des Domizil Jazzclubs der damals schon sehr bekannte Volker Kriegel, neben Klaus Doldinger der „Erfinder“ von Jazz-Fusion. Ströer war ein großer Fan und konnte Stücke von ihm nachspielen. Kriegel suchte einen neuen Bassist und nach dem letzten Set sprach er den jungen Mann an. Das war 1975 und „mir war klar, ich mache Abitur und wenn der mich dann will, dann ist es aus mit dem Musikstudium.“
Er fuhr zu Kriegel nach Frankfurt, sie spielten einen Nachmittag zusammen und der alte Hase merkte, dass ihn der Youngster auf der Gitarre perfekt imitieren konnte, was ihm imponiert und geschmeichelt hat. Ströer war wieder einmal der Mann der Stunde, da er auch den anderen Mitspielern diese Musik vermitteln konnte. Es begann eine über zehnjährige Zusammenarbeit mit Open-Air-Festivals vor 6.000 Zuschauern und einer Goethe-Institut-Tournee durch Afrika. „Das war irre für mich, durch elf Länder, in jedem Land haben wir mit einer ortsansässigen Band gespielt. Das hat meine ganzen Wertvorstellungen geändert.“
Parallel dazu verkehrte er als Bassist „ganz kommerziell“ in der Münchener Studioszene, machte eine erste eigene Platte mit Disco-Musik. „Das fand ich toll. Ihr versteht gar nichts voneinander und ich verstehe von beidem etwas.“ 1982 kam Bruder und Schlagzeuger Ernst Ströer ins Spiel, neue ambitioniertere Produktionen wie „Flucht nach Madagaskar“ entstanden; Ströer wollte wieder eine eigene Band.
Er entdeckte Horst Königstein, der die deutschen Texte einer Peter Gabriel-Platte verfasst hatte, schrieb ihn an und Königstein fand die Idee, deutsche und englische Texte auf einer Platte zu mischen gut. Ströer fuhr auf eigene Kosten nach London und suchte einen Sänger. Gern hätte er den damals noch völlig unbekannten Sting engagiert, den er über eine WDR-Produktion mit Eberhard Schoener (WDR-Produktion) kennen gelernt hatte, aber ein paar Monate danach kam der Durchbruch von „The Police“ mit Roxanne, aus einer Zusammenarbeit wurde nichts (mehr).
Zur Film- und Theatermusik war es kein großer Schritt mehr. Königstein brachte Ströer auf die Idee, und der sah einerseits eine gesicherte neue Einnahmequelle, andererseits faszinierten ihn die neuen Möglichkeiten. Plötzlich war das „Bild der bestimmende Faktor, der alles gerechtfertigt hat. Vielleicht fällt jetzt spätestens schon auf, dass ich keinen Stil habe. Dass mir das aber auch immer egal war. Ich lebe damit hervorragend.“ Ein bestimmter Stil würde ihn einengen. „Ich bin ja nicht Künstler geworden, um dann so zu sein wie mein Vater.“
Ein weiteres Groß-Projekt der Ströer Bros. dokumentiert diese Vielfalt bestens: zur Olympiade in Seoul bekamen sie 1988 den Auftrag, eine nicht-kommerziell gestaltete Disko zu gestalten. Nach einer eineinhalbjährigen Planungszeit entstand ein Gebäude für 2.000 Zuhörer, 36 verschiedene Bands traten mit eigens dafür produzierte avantgardistischer Musik auf. Ströer könnte noch stundenlang weiter erzählen: von seiner langjährigen Zusammenarbeit mit Udo Lindenberg, mit dem er unter anderem eine seiner Lieblingsplatten „Hermine“ aufnahm, von einer Theaterproduktion in Paris und und und…
Dass sich das alles wirlich gelohnt hat, wird klar, wenn man die kongeniale Musik zur preisgekrönten Doku-Spielfilmserie „Die Manns“ (2001/02) hört, für die Ströers enger Freund Heinrich Breloer sogar den „Fernseh-Oscar“ Emmy einheimsen konnte. Aber langsam, schließt er, „wird’s wieder mal Zeit für etwas Neues.“