Ich kann gar nicht schildern, wie sehr ich mich gefreut habe, als ich, wieder einmal ins Krankenhaus gezwungen, erfuhr, dass Nikolaus Brass diesen so schönen Preis erhalten würde. Und bald darauf erfuhr ich, dass mir die Laudatio zugedacht war. Warum diese aufrichtige Freude? Weil es – und darauf werde ich im Folgenden zu sprechen kommen – einen Freund, einen feurigen und stets kritischen Mitdiskutanten in Sachen Neuer Musik, und vor allem einen Aufrichtigen betraf.
Wenden wir uns zurück ins Jahr 1988. Es war in Donaueschingen, dem ausgewiesenen Weihetempel, was die zeitgenössische Musik seit vielen Jahren betrifft. Auf dem Programm las man einen weithin unbekannten Namen eines immerhin schon 39-jährigen Komponisten. Nun gut, immerhin Schüler des avancierten Komponisten Helmut Lachenmann – es waren Privatstunden – aber ebenso vermerkte man, dass der neue Komponist im Hauptberuf als Arzt tätig war. Ein Orchesterstück, knapp eine halbe Stunde lang, zog an den Hörern vorbei. Es hinterließ Ratlosigkeit, Überdruss, Langeweile. Kaum Beifall, um den Komponisten aufs Pult treten zu lassen, allgemeine Ablehnung. Nach dem Konzert sprach die immer so vorschnelle Kritik untereinander von Beziehungen des, soll man sagen, jungen Komponisten, die ihn nach Donaueschingen gespült habe. Ein Nebenher-Komponierer, der nicht viel zu sagen habe. Mir ging es damals ähnlich, und die Mühlen in Donaueschingen mahlen schnell. Brass hatte keine zweite Chance verdient, er war ausgesondert. Hört man heute die „Landschaft der Vergangenheit“, angeregt von einem Bild von Paul Klee, so muss man sich wundern, welcher unselige Zeitgeist dieses herbe Urteil gefällt hatte.
Brass kam völlig verwirrt nach Hause, als Komponist war er in größerem Rahmen gewissermaßen unmöglich geworden und es kostete gewiss viel Überwindung, überhaupt noch an eine Fortsetzung des eigenen schöpferischen Weges zu denken. (…)
Und zudem traf er nun auf eine sich zusehends wandelnde Landschaft der kulturellen Vermittlung, der er sich keineswegs anpassen wollte. Es gab im Grunde keinen schöpferischen Weg mehr. Begriffe wie Entertainment und Event begannen die ganzen kulturellen Aktivitäten in den Klammergriff zu bekommen. Die Worte Einschaltquote und Akzeptanz, nur scheinbar sind es demokratische, dominieren. Und es gab eine Menge nachrückender Komponisten, die sich mit diesen Umständen besser anfreunden konnten. Gut ausgebildet, das wird man in Mitteleuropa, stürzten sie sich auf verbleibende Pfründe und erfüllten die Erwartungen der Auftraggeber. Das Wort der eigenen Botschaft wurde verdrängt oder hintangestellt. Es herrschen gewissermaßen wieder feudale Zustände. Beobachten kann man bis heute, dass diese Komponisten nicht selten ihre kompositorische Arbeit weit reduzieren, wenn sie es einmal geschafft haben, eine Professur an einer Hochschule zu erlangen.
Es sei eine kleine Weile an diesem Punkt der medialen Vermittlung von Kunst verblieben, er ist wichtig für die weitere Orientierung von Brass. Einschaltquote: Erinnert sei an einen Vorfall bei der Verleihung des Fernsehpreises im letzten Jahr. Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki hatte aus Protest über das Niveau die Veranstaltung verlassen. Dabei hat er nur auf etwas reagiert, das im Grunde alle schon wissen. Unsere Medienlandschaft, im Strudel mit an der Spitze das Fernsehen, tendiert zu immer mehr Schwach- oder Blödsinn. Begründung ist das uneingeschränkte, weil angeblich demokratische Diktat der Masse. Die geballte Ladung des Blödsinns bei der Preisverleihung hat Reich-Ranicki kalt erwischt. Denn vermutlich ist es so, dass er das Zeug nie anschaltete, lieber ein Buch nahm oder mit anderen diskutierte. So abgeschirmt war für ihn die Welt noch einigermaßen heil. Es erging ihm so, wie jemandem, der zum ersten Mal in eine billige Illustrierte guckt. Er weiß vielleicht vorab dunstig und ungefähr, dass er hier viel Niveauloses zu sehen und zu hören bekommen wird, dann aber, in der direkten Konfrontation kulminiert es derart, dass die Eruption logische Folge ist. Reich-Ranicki hat in den Abgrund geblickt und war entsetzt. Eine Woche später traf sich der Kritiker im ZDF mit Thomas Gottschalk, nachgewiesener Verfechter der Einschaltquotendoktrin, zu einem Gespräch. Es war peinlich. Die beiden begegneten sich, wie man heute so schön sagt, auf Augenhöhe. Paul Klees „Zwei Männer, einander in höherer Stellung vermutend …“ fiel einem ein, zumal man gegenseitig mit Anerkennung nicht sparte: „Ich, wie könnte ich nur auf Ihre Höhe“ – „Nein, nein, allein auf dem Bildschirm zu erscheinen und Millionen Menschen sind glücklich …“
Reich-Ranicki übersah dabei, dass es nur das Vergnügen von Kindern im Zoo ist, wenn ihr Haribo-Bär nach einer Leckerei schnappt. Und dann die Argumente! Der Kritiker flehte händeringend darum, das Fernsehen möge nur „ein bisschen, nur ein kleines bisschen“ besser werden. Doch das Gespräch über Gottschalk hat nur eine Wendung genommen, die da hieß: Einschaltquote. „Wir machen einen Versuch. In einer Sendung bringen wir einen Beitrag, der Deinem Niveauanspruch genügt, und dann sehen wir unmittelbar – das kann man heute schon sehr schnell! – auf die Zuschauerentwicklung.“ Was sollte da Ranicki angesichts des Götzen Quote und der zappenden Masse noch sagen? Am besten nichts, also sagte er auch nichts. Wette verloren, Kritik tot.
Einschaltquote: Noch ein weit drastischeres Beispiel sei hier angeführt. Vor einigen Monaten lief im Fernsehen ein Bericht über Orang-Utans. In großen Vergnügungsparks werden sie in Südostasien als blöde Boxer kostümiert zur Schau gestellt. Dann müssen diese friedlichen Tiere auf sich einprügeln: Zum grölenden Vergnügen der Masse. Und es gab in diesem Bericht noch eine schlimmere Abteilung. Dort hatte man Orang-Utan-Weibchen an den Lenden rasiert und die Besucher konnten sich an ihnen sexuell vergnügen, wenn dieses Wort hier überhaupt zulässig ist. Es ist eine Frage der unteilbaren Würde. Die Entwürdigung des Tieres ist ebenso Entwürdigung des Menschen. Man konnte den Betreibern vielleicht so etwas wie ein schlechtes Gewissen ansehen. Ihr Argument aber war, dass die Masse das wolle, es war die Akzeptanz, die ominöse Einschaltquote.
Der große Immanuel Kant hat einmal in seinem Aufsatz „Was ist Aufklärung“ Folgendes geschrieben: „Daher kann ein Publikum nur langsam zur Aufklärung gelangen. Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotismus und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile werden, ebensowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen.“ Das aber gerade macht der heutige Event- und Entertainmentbetrieb: Er hintertreibt mehr und mehr Aufklärung im angeblichen Auftrag der Unterhaltung. Der Vorwand demokratischer Erscheinung ist Maske. Änderung ist so nicht in Sicht.
Mit solchen deprimierenden Verhältnissen also sah sich Nikolaus Brass konfrontiert, als er sich dann doch wieder anschickte, seinen schöpferischen Weg, der dem Menschen Vertiefendes sagen will, weiter zu gehen. Manchmal hat man seine Musik mit der von Morton Feldman verglichen, dem Brass in der Tat viel verdankt. Aber seine Zielsetzung ist eine ganz andere: Die Musik von Brass ist immer konkret auf ein Bild vom Menschen fokussiert, angeregt oft von Gemälden, Texten, Architektur. Und hier gibt sie dann weiter, was man nur in Musik zum Ausdruck bringen kann. (…)