Dresden 1949. Das Staatsgründungsjahr der DDR ist für viele ein Neuanfang. Für Herbert Collum ist es eine weitgehend pathosfrei erlebte Zäsur. Eine, die allerdings auch ihm Erklärungen abverlangt in Gestalt eines ausgegebenen „Personalbogens“. Das Ergebnis: ein im Jahr 1949 noch auf halbem Weg befindliches Künstlerleben, zusammengefasst auf vier Seiten, ohne „unzulässige Striche“. Ein Zusatz, der durchaus begründet war insofern solch amtsschimmlige Papiere hüben wie drüben Fragen aufgeworfen haben, die den Befragten unweigerlich an unangenehme Dinge erinnern mussten.
Auch bei Herbert Collum ist dies der Fall. Andere Fragen wiederum wird er gern beantwortet haben. Etwa, wenn es um seinen „Bildungsgang“, um seine „Auslandsaufenthalte“, vor allem aber, wenn es um seinen „erlernten Beruf“ geht: „Pflichtschule, anschließend Landeskonservatorium für Musik zu Leipzig, Kirchenmusikalisches Institut“, „Konzertreisen nach Schweden, Dänemark, Norwegen, Tschechoslowakei, Schweiz …“ (mit vielsagenden drei Punkten im Original), schließlich die spürbar aufgeladene Selbstvorstellung: „Kantor und Organist, freischaffender Künstler.“
Wie das große Vorbild Johann Sebastian Bach, in dessen berühmtem Kürzel (was ihn insgeheim mit Stolz erfüllt haben dürfte) Herbert Collum immerhin die Buchstabenpositionen Drei und Vier besetzt: b-a-C-H. Collum, Herbert. Ein ungemein passendes Nomen est omen, gab es doch mit Sicherheit zu seinen Lebzeiten keinen zweiten Dresdner Musiker, der das Bach’sche Werk für Tasteninstrumente mehr oder minder auswendig kannte und aus tiefen Quellen belebt vorzustellen wusste, wie zumal seine Aufnahmen an der Silbermann-Orgel in Reinhardtsgrimma hörbar machen. „Die Noten hatte Herbert Collum einfach im Kopf“, erinnert sich noch gut sein ehemaliger Cembalo-Schüler Ekkehard Klemm. Der heutige Rektor der Dresdner Carl Maria von Weber-Hochschule hat einen Herbert Collum erlebt, der das Ausführen Bach’scher Fugen gewissermaßen fernüberwachte, indem er im Saal spazieren ging, mitsummte, sich bei den Fugeneinsätzen beteiligte, um am Ende nach vorn zu kommen und dem Schüler die unterlaufenen Fehler anzuzeigen.
Keine Frage: Seitdem Herbert Collum am 18. Juli 1914 hineingeboren wurde in die armen Verhältnisse einer Leipziger Eisenbahnerfamilie, seitdem der auf Fotos der Zeit durchgeistigt wirkende Junge sehr früh seine Leidenschaft für die Orgel im Allgemeinen, für Bach im Besonderen, entdeckt und beides bei Karl Straube in Leipzig perfektioniert, andererseits mit dem Werk Max Regers ins Moderne erweitert hat und seitdem derselbe junge Virtuose (gewiss nicht ohne Straubes Zutun) 1935 zum Kreuzorganisten berufen wurde, steht der Zug seines Lebens im Prinzip auf dem Gleis. Wie sehr dieser Herbert Collum sich mit Dresden verbunden fühlt, offenbaren nicht nur seine 1935 begonnenen Vesper-Konzerte (die er sämtlich schriftlich festgehalten hat) und die ebenfalls 1935 begonnenen, noch in der DDR fortgesetzten privaten Collum-Konzerte, instruktiv ist hier ferner eine andere Anekdote, die auch in einer biographischen Abbreviatur wie dieser nicht fehlen darf.
August 1961. Auf Konzertreise im Westen, in Begleitung der Familie, wird Herbert Collum vom Mauerbau überrascht, zögert indes keine Sekunde, seine Rückkehrabsicht kundzutun. Rückkehr nicht in einen eingemauerten Osten, nicht in eine phobische DDR, wohl aber Rückkehr zu seiner Orgel und zu seinem zu nicht geringem Teil an und um diese Orgel herumkomponierten Werk. Wobei es zur Ironie der Geschichte gehört, dass sein mit Ausnahme der Oper alle Gattungen umfassendes kompositorisches Werk heute ausgerechnet im Westen liegt, in der Kölner Privatwohnung des Sohnes und Konzertorganisten Christian Collum, der, um die Entwicklungen des modernen Orgelspiels kennenzulernen, dem Arbeiter- und Bauernstaat seinerseits den Rücken gekehrt hat. Was eine andere Geschichte ist, zweitens aber doch der Grund dafür, dass der eigenartig vielstimmige Akkord Herbert -Collum-in-Dresden bis heute der finalen Auflösung harrt.
Das Werk jedenfalls hätte es verdient, hat doch bis heute nur ein Bruchteil desselben einen Verleger gefunden. Auf gut und gern 11.000 Manuskriptseiten schätzt Christian Collum den Umfang des Nachlasses seines Vaters. „Es ist ganz wenig gedruckt, von den Orchesterwerken, von den chorsinfonischen Werken ist noch nichts gedruckt. Ich hoffe, dass dieser Nachlass einmal erschlossen wird. Es lohnt sich! Ein Musikwissenschaftler, ein namhafter, hat von einem bedeutenden Nachlass gesprochen. Er hat ihn gesichtet. Und ich weiß auch aus der Chronik der Kreuzorganisten in Dresden, dass es so einen Kreuzorganisten mit so einer Doppelbegabung, Orgel und Komposition, wenn ich das sagen darf als Sohn, noch nicht gegeben hat.“ Das möchte man gern nachprüfen mögen. Dresden ist gefragt.