Nicht „Aimez-vous Brahms?“ oder „Aimez-vous Monteverdi“, sondern „Aimez-vous Fernand de La Tombelle?“ durften sich Venedigs Musikliebhaber in den Monaten April und Mai verschwörerisch zuraunen. Warum empfindsame französische Lieder und Streichquartette gerade in der Lagunenstadt? In einer kleinen Gasse in der Nähe des Kanals Rio di San Giacomo dall‘Orio liegt das Palazzetto Bru Zane, ein früheres Lusthaus des einflussreichen venezianischen Adelsgeschlechts Zane. Seit acht Jahren ist das Palazzetto im Besitz der Bru Fondation, die dort das Centre de musique romantique française einrichtete.
Unter der Leitung des Musikwissenschaftlers Alexandre Dratwicki arbeiten dort 15 Mitarbeiter daran, die französische Musik zwischen 1780 und 1920 in ihrer ganzen Fülle zugänglich zu machen. Drei Millionen Euro stellt die Stiftung dem Institut in Venedig jährlich für Forschung und Praxis zur Verfügung. Stiftungsgründerin ist die französische Ärztin Nicole Bru, die nach dem Tod ihres Mannes Jean Bru das Pharmaunternehmen UPSA übernommen hatte. Stiftungsziel war ursprünglich die Förderung von Medizin, Erziehung, Umweltschutz und Kultur. Madame Bru liebt aber Musik, Frankreich – und Venedig. So kam es, dass sie 2006 den Palazzetto für acht Millionen Euro erwarb und den maroden Bau aus dem Jahre 1697 von den Stützpfählen bis zu den Fresken für vier weitere Millionen renovieren ließ. 2009 eröffnete unter dem Namen Palazzetto Bru Zane das Centre de musique romantique française.
Welche Schätze in achtjähriger Arbeit dort schon gehoben, katalogisiert und digitalisiert wurden, lässt sich am Jahr für Jahr schnell wachsenden Bestand der Datenbank bruzanemediabase.com ablesen. Palazzetto Bru Zane veröffentlichte zahlreiche Partituren und praktische Ausgaben, darunter Werke von Dukas, Gounod, Saint-Saëns, Godard, Joncières, Kreutzer, Méhul, Thomas, David, Catel, Hérold, Nargeot und Ross-Despréaux. Bru Zane produzierte und veröffentlichte Aufnahmen und Mitschnitte mit Musik französischer Komponisten des 19. Jahrhunderts in den Serien „Prix de Rome“, „Opera francais“ und „Portraits“. Diese Aufnahmen und eine Buchreihe ermöglichen es Veranstaltern und Künstlern, sich neues Repertoire zu erschließen.
Aktuellstes Beispiel für die Arbeit des Palazzetto ist die von der Kritik hochgelobte Deutsche Erstaufführung von Reynaldo Hahns Oper „Der Kaufmann von Venedig“ an der Oper Bielefeld. Die kürzlich von Editions Alphonse Leduc neu veröffentlichte Partitur zu Hahns sechster und letzter Oper entstand maßgeblich durch die wissenschaftliche Mitarbeit des Palazzetto Bru Zane. Ähnliche Kooperationen gab es bei „Le Roi Carotte“ von Jacques Offenbach mit Boosey & Hawkes oder – im Bereich der Kammermusik – bei der Herausgabe der vollständigen Werke von Gabriel Fauré durch Bärenreiter.
Schaufenster Venedig
Das Jahr über bereichert Palazzetto Bru Zane das venezianische Konzertleben mit Konzerten und Festivals. Dazu werden Musiker aus der ganzen Welt eingeladen, in der Regel junge Interpreten, die noch am Anfang ihrer Karriere stehen. Das hat zum einen damit zu tun, erläutert Alexandre Dratwicki, dass Bru Zane Aus- und Fortbildungen für junge Musiker anbietet, zum anderen aber auch damit, dass man ins Palazzetto nicht mit seinem etablierten Bach- oder Beethoven-Programm kommen kann, sondern nur mit einer auf die wissenschaftliche Arbeit des Instituts zugeschnittenen Stückauswahl. Wenn dieses Frühjahr Künstler wie das Trio Karénine oder das Quatuor Strada im Saal des Palazzetto gastierten, dann nur unter der Vorgabe, dass sie La Tombelle aufführten. Venedig hat für die Fondation Bru Zane nicht nur die wichtige Funktion des Schaufensters für die ganze Welt, darüber hinaus finden neugierige Musiker hier unveröffentlichtes Notenmaterial und tragen neues, unverbrauchtes Repertoire hinaus in die Konzertsäle der Welt. Womit wir wieder bei Fernand de la Tombelle und Johannes Brahms wären. Was unterscheidet die französische Mélodie vom deutschen Lied? Und was haben ein progressiver Traditionalist wie Brahms und ein Amateur der Belle Époque wie de La Tombelle gemeinsam? Was das Genre Lied angeht, liegt die Antwort auf der Hand: Beide ziehen die Inspiration für ihr Liedschaffen aus zahllosen Liebesgedichten ihrer Epoche, viele davon aus volkstümlicher Überlieferung. Dazu noch einmal Dratwicki: „Tombelle ist kein Innovator, da ist noch nichts von Ravel oder Debussy zu hören. Wie Godard oder Dubois steht er in bester romantischer Tradition – nimmt man es genau, dann komponiert er nicht anders als viele seiner Zeit.“ Eine Rarität sind die „Melodies“ deshalb, weil sich das Kunstlied in Frankreich nicht derselben Beliebtheit beim Publikum erfreut, wie vergleichsweise der Liederabend auf der gegenüberliegenden Rheinseite.
Fernand de La Tombelle (1854 bis 1928) wurde in Paris geboren. Klavier studierte er hauptsächlich bei seiner Mutter, einen Schülerin von Sigismund Thalberg und Franz Liszt. Mit 18 stellte er seine Karriere in einem bürgerlichen Beruf zurück und beschloss, Musik zu studieren: Orgelspiel bei Alexandre Guilmant, später Komposition bei Théodore Dubois, dem er Zeit seines Lebens freundschaftlich verbunden blieb. Auf einem kleinen Festival „Fernand de La Tombelle, Gentleman of the Belle Époque“ im Palazzetto wurde dieses Frühjahr La Tombelles Liedschaffen durch den Bariton Yann Beuron und seinen Klavierbegleiter Jeff Cohen vorgestellt. Zeitgleich kam eine CD mit den „Mélodies“ auf dem Label apartemusic heraus. Das Festival blieb nicht beim Lied stehen, sondern zeigte den „honnête homme“ in seiner ganzen kammermusikalischen Vielfalt mit Streichquintett, Klaviertrio, einem Stück für drei Celli, sowie je einer Cello- und einer Violinsonate.
Wie bei anderen französischen Komponisten dieser Zeit tritt auch bei ihm der Personalstil hinter eine genrespezifische Klangsprache zurück. Tombelles Kompositionsstil war eklektisch und hört man sich sein Klaviertrio a-Moll, Opus 35 von 1895 an, das ebenfalls beim venezianischen Tombelles-Festival vom Trio Karénine aufgeführt wurde, dann ist man, will man ihn verorten, hin- und hergerissen: Schumann? Eher Brahms – oder klingen da nicht Mendelssohn und Fauré durch?
Fernand de La Tombelle ist nur eine der vielen Entdeckungen, die man im Palazzetto Bru Zane machen kann. Ebenso finden sich hier seltene Noten, rare CD-Einspielungen und edel gemachte Bücher zu Komponisten wie Camille Saint-Saëns, Étienne-Nicolas Méhul, Louis-Ferdinand Hérold, Luigi Cherubini, Charles-Henri Plantade, César Franck, Alexis de Castillon, Ernest Chausson und vielen anderen.
Vom Canale an die Spree
Der Palazzetto Bru Zane ist vom Bahnhof oder der Piazzale Roma fußläufig leicht zu erreichen. Diejenigen, bei denen die Destination Venedig nicht in der Jahresplanung steht, können das Wirken des Palazzetto Bru Zane auch in Deutschland erleben. Seit drei Jahren arbeitet man eng mit Orchester und Chor des Bayerischen Rundfunks zusammen, einmal im Jahr gibt es ein großes Event im Münchener Prinzregententheater mit französischer Oper und Konzert. In der kommenden Saison gibt es ein Bru-Zane-Festival im Radialsystem in Berlin. Das dramaturgische Konzept dafür ist bestechend: Es handelt sich um nicht weniger als den Export und die Aufführung der besten Palazzetto Kammermusik-Editionen aus acht Jahren Forschungsarbeit an einem Wochenende. Anfahrt mit Gondel oder Wassertaxi allerdings nicht über den Rio di San Giacomo dall‘Orio, sondern über die Spree, Anlegestelle Schillingbrücke.