Reisen in die Vergangenheit schärfen für Fred Frith vor allem den Blick nach vorn. 2014 scheint er diese Aussicht besonders zu genießen: Auf dem diesjährigen Moers Festival führte er gemeinsam mit elf Musikerinnen und Musikern sein 1980er-Album „Gravity” komplett auf. Im Spätsommer tourte Frith allein durch Europa – 40 Jahre, nachdem er mit seiner Platte „Guitar Solos” die Möglichkeiten des Gitarrenspiels radikal erweitert hatte.
Im Rahmen der Ruhrtriennale trat Fred Frith Anfang September in der Essener Zeche Carl auf. Es war ein sehr harmonischer Auftritt: Zu Beginn gab es zwar die typischen Noiseattacken, bei denen Frith die Saiten seiner Gitarre mit allem, was ihm in die Hände kam, bis an die Schmerzgrenze malträtierte; im Laufe des einstündigen Konzerts wurden sie aber von dezenten Loops und sphärischen Klangteppichen abgelöst. Am Ende waren sogar Slideguitar-Fragmente zu hören, begleitet von einem kaum verständlichen Gesang, der sich zwischen Captain Beefheart und Pere Ubu einordnete.
Der lang anhaltende Beifall am Ende des Auftritts bewegte Frith sichtlich. Er musste kurz innehalten, tief Luft holen, ehe er anschließend verkündete, weshalb er auf eine Zugabe verzichte: Man habe zu Beginn des Abends gemeinsam einen Bus bestiegen, um einen langen Weg durchs Ungewisse, durch weite und fremde Landschaften zu unternehmen. Gerade angekommen, könne man doch nicht sofort schon wieder losfahren. Das altersmäßig sehr gemischte Publikum hatte verstanden und trat mit einem Lächeln auf den Lippen den Heimweg an.
Auf seiner langen Reise durch die Geschichte der Musik hat der 1949 in Heathfield, East Sussex geborene Multiinstrumentalist an vielen Stationen halt gemacht: Blues, Rock, Freie Improvisation, Neue Musik, Hardcore und Jazz. Mit der Artrock-Band Henry Cow, politischer Arm der Canterbury Szene um Soft Machine, Caravan und Gong, hinterließ er bereits Anfang der 1970er erste musikalische Spuren. Später gründete Frith die Organisation „Rock in Opposition“, um sich den Mechanismen der Musikkonzerne zu entziehen. „Musizieren ist für mich kein Prozess, der in geschlossenen Zirkeln stattfindet, er hat auch eine gesellschaftliche Relevanz“, sagt er.
Aus künstlerischer Sicht dürfte die Erfindung der präparierten Gitarre vor vier Jahrzehnten wohl der radikalste Schritt gewesen sein. „Ich habe damit begonnen, das Gitarrenspiel zu verändern, als ich mich dazu bereit fühlte, „Guitar Solos“ aufzunehmen. Davor waren meine Experimente mehr oder weniger darauf beschränkt, Pickups am Kopf der Gitarre zu befestigen und so Geräusche zu erzeugen“, sagt Fred Frith rückblickend.
Mittlerweile gehören Bänder und Bürsten, Ketten und Bögen, Erbsen und Linsen zur Standardausrüstung experimenteller Gitarristen. Die direkte Verantwortung hierfür weist Frith aber von sich. „Viele von ihnen sind vermutlich aus zweiter oder dritter Hand beeinflusst worden und sie kennen meinen noch nicht einmal“, lacht er. „Ich wurde zum Beispiel mehr davon beeinflusst, dass ich Texte von John Cage las oder dem Kontrabassisten Barre Phillips zuhörte als vom Spiel anderer Gitarristen.“
Die radikale Öffnung seiner Spielweise mag von den Grundlagen her anarchisch, zum Teil auch chaotisch wirken, dennoch gibt es im Werk Friths auch immer eine Komponente, die sich stark an Partituren orientiert, die auch den Einfluss Neuer Musik nicht leugnen kann. Dieser Aspekt kommt in dem Ballett „The Technology of Tears”, in der Oper „Traffic Continues“ mit dem Ensemble Modern oder in den Stücken, die er für Streich- oder Gitarren-Quartette komponierte, zum Vorschein. Doch auch bei diesen Werken bleibt Raum für Bewegung. „Komponierte Musik verändert sich in dem, wo sie aufgeführt wird“, sagt Frith, denn: Improvisation sei nun einmal spontane Komposition – oder, um mit Arnold Schönberg zu sprechen: „Komposition ist verlangsamte Improvisation.“
Lohnt es sich in diesem Zusammenhang überhaupt noch von „Genres“ zu reden? „Ich denke, die Bezeichnung ‚Genre‘ ist nicht besonders hilfreich“, sagt Frith, zumal das Ziehen von neuen Grenzen nicht wirklich sinnvoll sei. Grenzen zu überwinden, um Freiräume zu schaffen, lautet sein Credo. „Wichtig ist, dass das musikalische Schaffen eine gewisse Relevanz hat für das, was ich tue.“
Der Film „Step across the border“ von Nicolas Humbert und Werner Penzel aus dem Jahr 1990 setzt sich damit auseinander: Er zeigt einen von Klängen und Klangfarben besessenen Künstler, der offen ist für die Klänge der Welt und der versucht, das Geräusch in einem musikalischen Kontext von seinem bloßen Lärm-Charakter zu befreien: Sei es, indem er das Geschrei der Möwen auf der Violine imitiert oder die Geräusche einer Maschinenfabrik zu einer Symphonie zusammenfügt.
Der Einfluss von John Cage liegt auch hier nahe. Wie auch der anderer Musiker und Komponisten: Karlheinz Stockhausen und Frank Zappa, Violeta Parra und Kostadin Varimezov, Sun Ra und Miles Davis oder Olivier Messiaen und Terry Riley – alle hätten auf ihre Weise Spuren hinterlassen. „Am meisten aber habe ich von den Leuten gelernt, mit denen ich zusammen gearbeitet habe.“
Der Auftritt mit der Gravity-Band in Moers ist ein gutes Beispiel. Die Musiker – zum überwiegenden Teil Schüler, die er am Mills College in Oakland, Kalifornien unterrichtet – seien an ihn mit dem Wunsch herangetreten, die Stücke live aufzuführen. „Anfangs war ich skeptisch, da ich mich immer schon mehr für das interessiere, was in der Gegenwart geschieht als für das, was war“, so Frith. Aber dann habe er nachgegeben. „Zurückzuschauen kann sehr unterhaltsam sein“, sagt er. Es erinnere ihn an Potenziale und Qualitäten, die er mitunter vergesse, wie etwa „die Einfachheit komplexer Musik zu erkennen und die Möglichkeit zu besitzen, ein gutes Stück zu schreiben“.
Aktuell stehen kleine Formationen auf dem Programm: Duo-Aufnahmen mit alten Bekannten, wie der Saxofonistin Lotte Anker, dem Saxofonisten John Butcher und dem Kontrabassisten Barry Guy. „Es waren Kooperationen, die schon länger auf meiner Liste standen. Dass es ausschließlich Duo-Aufnahmen wurden, war eher Zufall“, sagt er. Und auch was danach kommt, sei völlig offen. Der Bus für die nächste Reise steht jedenfalls schon bereit.
Auswahldiskografie
- Guitar Solos (1974), Fred Records
- Henry Cow Concerts (1976), ReR Records
- Gravity (1980), Fred Records
- Technology of Tears (1987) Fred Records
- Quartets (mit Violet Wires & Guitar Quartet, 1994), RecRec Records
- Traffic Continues (mit Ensemble Modern, Zeena Parkins & Ikue Mori 2000), Winter & Winter
- The Natural Order (mit John Butcher, 2014), Northern Spy
- Backscatter Bright Blue (mit Barry Guy, 2014), Intakt
- Edge of the Light (mit Lotte Anker, 2014), Intakt
- Step Across The Border (Film von Nicolas Humbert & Werner Prenzel, 1990), Winter & Winter, DVD