Ein Sibelius-Problem? Für einen Moment ist Paavo Järvi irritiert. „A funny way of putting it“, meint er und lacht über diese „amüsante“ Perspektive auf einen Komponisten, den er von der Moderne höchst ungerecht behandelt sieht. Das sei doch der klassische Fall von Selbstblockade. „Man muss diese Musik nicht mögen, aber sie nicht zu kennen, ist Verarmung.“ Alles selbstverschuldet also? Eine kleine Schweigesekunde später gewinnt ein bis dahin freundlich dahinplätscherndes Gespräch über Dirigentenqualitäten im allgemeinen, Dirigiervorlieben im besonderen an Tiefe, wird doch mit einem Mal klar, dass die Kontinentalplatten eines globalisierten Klassik-Verständnisses in Bewegung sind. An ihren Bruchkanten wird Reibungsenergie frei.
„Kullervo ist ein Statement dessen, was ich hier vorhabe – das Leben der Musikfreunde aufregender, interessanter zu machen. Für mich ist das ein verkanntes Meisterwerk. Dass ich hier so etwas ausprobieren kann, war ausschlaggebend, das Frankfurter Angebot anzunehmen.“
Als Spross einer estnischen Dirigentenfamilie, der in den Vereinigten Staaten Ausbildung und Orientierung erfahren hat, sieht sich Järvi in der Tradition Beacham-Barbirolli-Bernstein. Für die Sibelius-Abstinenz seiner europäischen Kollegen hat er insofern nur Unverständnis übrig. Armes altes Europa? – Järvi versteht die Anspielung und reagiert mit entwaffnender Offenheit. Schon Max Rudolf, sein ansonsten verehrter Dirigierlehrer am Curtis-Institute Philadelphia habe von dem Finnen nicht gerade viel gehalten. „Bad Brahms“, „schlechter Brahms“ habe er seine Sibelius-Erfahrungen zusammengefasst, womit nun aber leider auch Rudolf, findet Järvi, nur den konventionellen Standpunkt zu diesem Komponisten tradiert habe. Was nicht heißen solle, dass er, Järvi, sich Illusionen über das bescheidene Orchestrierungsvermögen insbesondere des frühen Sibelius machen würde. Was er aber an dieser Musik schätzt (und mit den Händen fährt Paavo Järvi über die Umrisse einer imaginären Plastik) sei die ganz eigene Körperlichkeit des Klangs – zumal, wenn dieser geformt wird von Klangkörpern wie dem hr-Radio-Sinfonieorchester, dessen Qualitäten Järvi in diesem Zusammenhang ebenso rühmt wie die geschmeidig geführten Tiefbässe des Nationalen Estnischen Männerchors, die dieser Musik erst recht zu ihrer skulpturalen Existenz verhelfen würden. Grund genug, sein Frankfurter Antrittskonzert – allen mitteleuropäischen Trägern von Sibelius-Bedenken zum Trotz – mit einem einzigen Programmpunkt zu versehen, eben der Kullervo-Chorsinfonie. So geschehen im Oktober vergangenen Jahres.
Seitdem ist Paavo Järvi nicht nur künstlerischer Leiter von Deutscher Kammerphilharmonie Bremen und Cincinatti Symphony Orchestra – mit dem hr-Radio-Sinfonieorchester hat er seinen dritten Klangkörper in Chefposition übernommen, wobei die Frankfurter Bekanntschaft auf inspirierende frühere Gastspiele zurückgeht: Musikalität, Arbeitsatmosphäre, vor allem das für ein Rundfunk-Orchester typische Mandat fürs Zeitgenössische, fürs Unbekannte haben ihn gereizt. Genau das, was ihm in seinem Dirigentenleben noch gefehlt habe.
„ Nicht beschränkt zu sein durch irgendeine Definition von neuer Musik – das macht unsere Zeit, anders als noch vor 30 Jahren, so positiv.“ Nach seinem Selbstverständnis bewegt sich Järvi zwischen modernitätsfeindlichem Traditionalismus einerseits und den Gewohnheiten wie Feindbildern der alten Avantgarde andererseits. Unzweideutig ist gleichwohl das Bekenntnis zur Repertoirerweiterung mittels neuer Musik, auf die er als amerikasozialisierter Bernstein-Schüler mit ausgeprägt angelsächsischen Augen schaut – als selbstbewusster Este obendrein mit dem Sympathieblick für nordische Komponisten jedweder Couleur: Niel-sen, Sibelius, Stenhammar, Tubin, Tüür. „Aufbruch“ hat Paavo Järvi seine erste Spielzeit in Frankfurt überschrieben und das hr-Konzertgelände neben einem Romantik- und Klassische-Moderne-Schwerpunkt strikt eingenordet: Hier Sibelius’ vergessene Chorsinfonie, der Schlachtruf eines jungen Wilden des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts – dort die Uraufführung des neuen Klavierkonzerts von Komponistenfreund Erkki-Sven Tüür mit dem Solisten Thomas Larcher, Klanggestalt des beginnenden 21. Jahrhunderts. In beiden Fällen frische Brisen fürs Repertoire. Der Este mit den blauen Augen, dem schütteren Blondhaar und der tiefen Stimme ist keiner, der gern zaudert, wenn er für sich eine Frage einmal geklärt hat.
„Was ich nicht möchte, sind Konzert-erfahrungen, in denen die Dinge abgesichert, vorhersagbar sind. Darin liegt für mich die Gefahr, weswegen es notwendig ist, die Grenzen zu verschieben, das Tor zu etwas Neuem aufzustoßen, zu etwas, was ein Publikum – aus welchen Gründen auch immer – noch nicht gehört hat.“
Unzweideutig auch das „Ja“ auf die Grundsatzfrage nach der Zukunft der Klassischen Musik und der des Orchesters. Wie diese Zukunft aussehen kann – darüber hat Paavo Järvi recht genaue Vorstellungen. Ebenso aber auch, wie sie auf keinen Fall aussehen darf. Emphatisch geradezu sein Widerspruch, als die Rede auf Modeerscheinungen des Konzertlebens kommt. Event? Crossover? Järvi verzieht sein Gesicht wie in einer Ekelreaktion.
„ Es gibt wirklich nichts Schlimmeres als Crossover-Projekte. Soundtracks zu Kinofilmen, die als Klassische Musik verkauft werden sind Machenschaften, die ich verabscheue. Die Kunst-Form wird herabgewürdigt durch die-se Tenöre und andere Formationen mit ihrem Pop-Star-Getue – das Ganze ist Müll.“
Eine strikt auf Verkaufserfolg getrimmte Event-Kultur, so Järvi, gestatte keine Unsicherheit, verweigere sich dem Nicht-Ausrechenbaren, wovon die Musik, insbesondere die neue nun einmal nicht zu trennen sei. Dass der Kunst nur jenseits der trügerischen Sumpfblüten des internationalen music business eine Zukunft erwachsen kann – darauf zu beharren, darauf zu setzen, macht den Sympathiebonus einer jungen Dirigentengeneration wie sie Paavo Järvi vertritt.