Der jährlich vergebene Stuttgarter Kompositionspreis hat sich in den vergangenen Jahren mehrfach als Sprungbrett für Komponisten erwiesen. Auch einer der beiden diesjährigen Preisträger wurde nach dem Preisträgerkonzert im Rahmen des Éclat-Festivals am 10. Februar als noch „unbeschriebenes Blatt“ (nmz-online, 13. Februar 2011) gefeiert: der 1979 in Regensburg geborene und in Hamburg lebende Leopold Hurt.
Unbeschrieben ist natürlich ein relativer Begriff, denn zumindest in München und Hamburg ist er seit geraumer Zeit kein Geheimtipp mehr. Im Süden studierte er zunächst Zither, Viola da Gamba und Komposition, um dann ab 2004 an der Hamburger Musikhochschule seine kompositorische Ausbildung fortzusetzen. Das kulturpolitische Klima der Hansestadt war zu dieser Zeit kein Eldorado für angehende Komponisten, aber er hatte Glück, denn fast zeitgleich kam auch Martin Jaggi (Basel) in Manfred Stahnkes Kompositionsklasse und wurde zu einem wichtiger Diskussions- und Duopartner für denkwürdige Konzerte mit Neuer Musik für Zither, Cello und Elektronik (vgl. u.a. L. Hurt 2005, in: Dissonanz Nr. 92). Entwarf er in seiner Münchner Zeit noch weite, sogartige Bögen auf der Grundlage stark reduzierten Materials, so kamen seit seinem „Aggregat für Violoncello, mikrotonale Basszither und Elektronik“ (2005) verstärkt Brechungen und irritierende Momente hinzu, die den Glanz der perfekten Großform ins Wanken brachten. Wenig später entstand dann für das Ensemble Intégrale Hurts „Erratischer Block“ (2006), das nun in Stuttgart und, zusammen mit den „Seismographien“ (2009), kurz darauf auch noch in Regensburg mit einem Kompositionspreis ausgezeichnet wurde. Warum gerade dieses Stück?
Neben Loriots „Jodeldiplom“ und einer „Mia san mia“-Schützenfestmentalität gibt es eigentlich kaum Platz für einen unvoreingenommenen Zugang zu dieser alpenländischen Musiktradition. Hurt hat sich augenzwinkernd und ernsthaft zugleich zwischen die Vorurteile gedrängt und historische Tonaufzeichnungen als klangliche objets trouvés zu einem ungewöhnlichen Ausgangspunkt dieser Musik gemacht. Er seziert die historischen Aufnahmen, um sich dann wieder gemeinsam mit dem Hörer an die ursprüngliche Gestalt zurückzutasten, ein Verfahren, das später abgewandelt und in klanglich ganz andersartigem Gewand in den „Seismographien“ (2009, mit Musik von Antoine Brumel) wiederkehrt.
Das von Schellackplatten stammende Klangmaterial, ein auf Geigen gespielter Ländler für eine erste große Phrase, und Innviertler Lieder beziehungsweise Jodler-Gesang für eine zweite, bilden das Ausgangsmaterial der Tonspur. Die fragmentierten Aufnahmen werden dann in der Musik wie ein archäologisches Fundstück ausgegraben und wieder zusammengesetzt. Das Ensemble begleitet und kommentiert den Prozess durch schroffe Einwürfe, setzt die Motivik aber auch in sich ständig verändernder Art fort.
Sieht man von der Fülle wichtiger Details ab, so ist die Grundidee einfach und überzeugend: Während die erste große Periode harmonisch funktioniert und die Ländlermusik in Form schmaler Frequenzbänder mit einzelnen Tonhöhen allmählich zusammentritt, wird das Tondokument in der zweiten großen Periode vertikal gestückelt, um eine extreme Dehnung des Tempos erst allmählich zurückzunehmen. Besonders ohrenfällig wird hierbei das eigenwillig verschrobene Mikrotiming dieser Musik. Die strengen, konzeptionellen Grenzen wären aber ein Garant für sterbenslangweilige Musik, wäre da nicht auch Hurts unbändige Lust an spontanen Einfällen und grotesken Wendungen, wie sie insbesondere den eigenwilligen Mittelteil von „Erratischer Block“ charakterisiert. Hurt selbst spricht in dem Zusammenhang von einer „kaputten Treppe“, die in den zweiten neuen Raum führe. Ähnliche Aufbrechungen der organischen Form durch Techno-typische Elektronik gab es auch schon im zuvor entstandenen „Aggregat“ – ein Prinzip, das sich zu einem wesentlichen Nerv seiner Musik entwickelt hat. Selbst der Umgang mit der „reinen“ Stimmung, ein ebenfalls konstantes Element seiner Musik der letzten Jahre, begegnet in diesem sehr gestisch gedachten Stück unorthodox und musikantenhaft. Sieben Almglocken und auch die Zither sind obertönig eingestimmt (8.-14.). Durch Loslösung der Partialtöne von ihrem Grundton verselbständigt sich die Stimmung der Zither zu einer ganz eigenen, durch kleinintervallische Tonhöhenwechsel stetig schwankenden Harmonik. Der „Erratische Block“ ist nun schon ein paar Jahre alt, und in der Zwischenzeit hat Leopold Hurt insbesondere für Besetzungen ohne Zither komponiert. Sein Paradeinstrument rückt in nächster Zeit wieder verstärkt in den Fokus: Ein Werk für Zither und großes Orchester ist gerade in Arbeit.