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Bernard Stevens
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Fusionäre der Gegensätze

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Bernard Stevens, Karl-Birger Blomdahl und Alberto Ginastera zum 100. Geburtstag
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Das Jahr 2016 kann es an Jubiläumsprominenz zwar nicht mit den Vorjahren aufnehmen, was die ganz großen Namen betrifft – 2012 Debussy, 2013 Britten, 2014 Richard Strauss und 2015 Sibelius, Scriabin und Nielsen –, doch wer genauer hinsieht, kann doch reichlich ernten, und die runden Geburts- und Todestage von Ferruccio Busoni, Erik Satie oder Max Reger sind weltweit Anlass zahlreicher Gedenkveranstaltungen und Publikationen.

Dann sind da die weniger Bekannten höchster Qualität wie Cipriano de Rore, dessen 500. Geburtsjahr sich mit dem 100. von Henri Dutilleux trifft, der das beinahe noch erlebt hätte. Auch das US-amerikanische Avantgarde-Urgestein Milton Babbitt und der im Windschatten Schostakowitsch` emporgestiegene finnische Symphoniker Einar Englund, beide 1916 geboren, haben ein hohes Alter erreicht. Nun sind Jubiläen allgemein zwar nichts weiter als willkommene Ablenkungsmanöver von der Einfallslosigkeit der Mainstream-Kultur, doch wollen wir die Gelegenheit gerne nutzen, um auf drei herausragende Meister aufmerksam zu machen, die im Konzertleben wenig bis gar nicht präsent sind, wie auch Dutilleux ein eher schmales Gesamtœuvre schufen, und relativ früh verstorben sind.

Bernard Stevens

Der Substanziellste und zugleich bei weitem Unbekannteste unter ihnen ist der am 2. März 1916 in London geborene Bernard Stevens. Der große Geiger Max Rostal, der Stevens’ expressionistisch dunkles, dicht gewobenes und zugleich klassisch klar geformtes Violinkonzert in Auftrag gab, war einer der wenigen Prominenten, die in ihm einen der feinsten, kraftvollsten und unabhängigsten englischen Komponisten erkannten. Stevens war überzeugter Kommunist, was ihn beim Establishment in eine isolierte Position brachte, zumal seine bescheidene, charmante Zurückhaltung als Person einen markanten Gegensatz zu seiner messerscharfen gesellschaftlichen Haltung bildete. Stevens, der als junger Mann die düstere Rhapsodik Ernest Blochs bewunderte, schrieb in steter Regelmäßigkeit Kammer-, Klavier- und Vokalmusik, worunter sein 2. Streichquartett von 1962 besonders hervorragt, ein Werk von gebündelter Konzentration, Stringenz und zugleich einem unerschöpflichen inneren Reichtum, was ihm die Bezeichnung eines „modernen englischen Brahms“ eintrug.

Er verwandte Zwölftonmelodien in tonal gebundenem Kontext und gelangte schon früh zu einer Balance der Gegensätze, einem energetischen Kontinuum, das stets vom ersten bis zum letzten Ton den wachen Hörer fordert und fesselt. Stevens war ein vollkommen kompromissloser Künstler, es ging ihm vor allem um die Einheit in der Vielfalt, um den bezwingenden symphonischen Zusammenhang, in welchem jede Einzelerscheinung in erlebter Beziehung mit allem anderen steht. Zugleich ist seine Musik technisch oft extrem herausfordernd im Zusammenspiel von Virtuosität, Reduktion auf das Wesentliche und unwiderstehlich voranschreitender Entwicklung der Gedanken und Gestalten. Sein Orchesterschaffen liegt zwar großteils in Einspielungen vor, doch dürfen wir davon ausgehen, dass fast jedes seiner Werke auf dem europäischen Kontinent noch nie erklungen ist, und die Briten haben in ihrem nationalistisch kaschierten Minderwertigkeitskomplex seit jeher eine seltene Begabung gezeigt, die besten ihrer Komponisten zu ignorieren.

In der Tat hört man Stevens’ Musik kaum an, dass sie britisch ist – wüsste man es nicht, so würde man in den meisten seiner instrumentalen Schöpfungen auch nicht darauf kommen. Bereits 1943 zeigt ihn sein herb energiegeladenes Violinkonzert als einen Komponisten, der ganz auf eigenen Füßen steht – es ist aufschlussreich, dass dieses Werk als eines der wenigen die unmittelbare Gegenüberstellung mit den von Stevens so verehrten Meistern Bartók, Berg und Schostakowitsch verträgt und fast so etwas wie eine vermittelnde Stellung zwischen deren großen Konzerten einnimmt – ein echter Solitär der Literatur, und wir können nur wünschen, dass auch heutige Geiger dieses in seiner Kraft der Innerlichkeit überwältigende Werk für sich entdecken.

Auch für das Cello schrieb Stevens 1952 ein wertvolles, insgesamt lyrischeres Konzert, und 1955 folgte das strukturell dichte Klavierkonzert. Gekrönt wird Stevens’ reifes Orchesterschaffen von der 1964 vollendeten 2. Symphonie, die zum Besten gehört, was England im 3. Viertel des 20. Jahrhunderts aufweist. Doch das erstaunlichste Werk aus seiner Feder ist die Kammeroper „The Shadow of the Glen“ nach dem gleichnamigen Theaterstück von Synge. Dieses 1979 abgeschlossene klaustrophobische Psychodrama gibt tatsächlich dem neueren britischen Musiktheater das, was ein Janácek zu Beginn des Jahrhunderts den Tschechen gegeben hatte: eine authentische, absolut stimmige Beziehung zwischen Sprachmelodie und musikalischem Duktus, und dies ausgerechnet auf der Basis gregorianischer Melodien! Ein Genie kennt letzten Endes keine Logik, und die Programmplaner des so im Trend liegenden Kammeroper-Genres haben dieses zeitlose Meisterwerk bis heute ebenso wenig entdeckt wie Pehr Henrik Nordgrens grandios abgründige Tschechow-Feier „Der schwarze Mönch“.

Stevens’ Musik ist für den spontan aufmerksamen Hörer geschrieben, nicht für die Kenner, auch wenn diese in unerwarteter Weise auf ihre Kos-ten kommen. Es ist höchste Zeit, ihn zu entdecken, und da müssen wir nicht warten, bis es in seiner Heimat (nie) geschieht. Als er seine einzige Oper schrieb, wusste er bereits von seiner tödlichen Krankheit, die ihn 1983 dahinraffen sollte.

Alberto Ginastera

Im selben Jahr starb auch der am 11. April 1916 in Buenos Aires geborene Alberto Ginastera, zusammen mit seinem kurzzeitigen Schüler Piazzolla der bedeutendste argentinische Komponist, doch von einem ganz anderen, zerrissenen Naturell. Ginastera begeisterte sich für den Barbaro-Ton Béla Bartóks und versuchte, den Geist der Gaucho-Kultur in zeitgemäßer Weise erstehen zu lassen. Sein frühes Ballett „Estancia“ wurde ein Erfolgsstück. Zusehends verkomplizierte er seine Sprache in der Überwindung gescheiterter Symphonie-Projekte und erkundete die Möglichkeiten der Dodekaphonie.

Er verkörpert den argentinischen Widerspruch zwischen kolonialer Bildung und grausamer Auslöschung, zwischen urbanem Pulsieren und der Ruhe und Schönheit der Pampa. Wenn diese Elemente zu vollendeter Fusion geführt werden, wie in dem Orchesterwerk „Pampeana III“, entfaltet seine Musik ihren ganzen schillernden Zauber. Dem neueren Musiktheater schenkte er mit „Bomarzo“ und „Don Rodrigo“ zwei seiner polyvalent grenzerweiterndsten Werke, den Harfenisten eines ihrer zündendsten Solokonzerte, den Pianisten drei mitreißende Sonaten, den Cellisten zwei spröde-erratische Konzerte, und selbst sein Konzert für Streicher klingt wie ein imaginäres großes Orchester. Ginastera blieb ein rastlos Suchender nach der Überwindung schrillster Gegensätze, stets authentischer Ausdruck einer aus dem Gleichgewicht geratenen globalen Kultur, als deren heilendes Element die unbezähmbaren Vitalkräfte aufblitzen.

Karl-Birger Blomdahl

Der Schwede Karl-Birger Blomdahl, geboren am 19. Oktober 1916, starb bereits 1968 an einem zweiten Herzinfarkt. Er hat die Musik seines Landes endgültig aus der Nationalromantik und dem verbindlichen Neoklassizismus herausgeführt, obwohl seine Streicherwerke die nordische Herkunft sofort preisgeben. In seinen stärksten Stücken wie der 3. Symphonie „Facetter“ von 1950, dem Kammerkonzert für Klavier, Blechbläser und Perkussion von 1953, den wild gezackten Balletten oder der gleißend-abstrakten Tondichtung „Forma ferritonans“ von 1961 ist die Musik von einer unerhörten Schlagkraft, lavahaft strömender, geballter Energie, rockjazzig knackigem Rhythmus, glasklarer Orchestration und elektrisierender motivischer Prägnanz, auch unerbittlicher formaler Stringenz. Unter Sergiu Celibidache nahm die eiskalt-glühende Ekstase seiner Architekturen flammende Gestalt an. Blomdahl führte bewusst Elemente des geliebten Bartók, Hindemiths und der zweiten Wiener Schule zu einer explosiven Fusion der Extreme des Abstrakten und des Konkreten, des Grellen und des Verschatteten, und schuf mit der zeitkritischen „Aniara“ 1959 die erste Weltraumoper. Seine visionärsten Werke entstanden in der gedrängten Zeitspanne von eineinhalb Jahrzehnten.

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