Ob wohl Maria und Joseph die allerersten Menschen gewesen sind, die „keinen Raum in der Herberge“ hatten, also quasi obdachlos waren? Wie hätte sich die Welt weiterentwickelt, wenn das Jesuskind vielleicht auf der Straße geboren und dort gestorben wäre? Eine Welt ohne Christentum?!? – In der Region Hannover gibt es etwa 4000 Wohnungslose. Davon leben rund 400 dauerhaft auf der Straße. In ihrem Leben ist irgendetwas „schief gelaufen“, nicht immer waren sie selbst daran Schuld. Nun sind sie Einzelkämpfer um das eigene Überleben. Dienstags aber – da kommen einige von ihnen zum Obdachlosenchor zusammen und tanken gemeinsam neue Kraft aus der Musik.
Gemeinsam neue Kraft aus der Musik – Der Obdachlosenchor Hannover
Es ist ein lustiger und wuseliger Haufen, der sich da an jedem Dienstagvormittag im Gemeindesaal der Gartenkirche St. Marien in Hannover trifft. Natürlich zählt man Menschen, Individuen, nicht in „Haufen“ – aber der besondere Zusammenhalt und die große Freude aller, einander wiederzusehen, miteinander Zeit verbringen zu können, ist schon besonders auffällig. Man achtet aufeinander und die Frage „Wo sind Katrin und Deniz?“ ist Ausdruck dieser engen Verbundenheit und der Lücke, die jeder Einzelne reißt, wenn er oder sie nicht kommen.
„Ich habe ihre Telefonnummern und kümmere mich nachher gleich darum“, verspricht Willi Schönamsgruber. Er ist der Gründer dieses Obdachlosenchores. Als er ihn im Oktober 2018 ins Leben rief, kamen zwei bis vier wohnungslose Menschen zu den Proben. Für Schönamsgruber war von vornherein klar, dass es sich um ein Langzeitprojekt handeln würde und gegenüber den Geldgebern musste er oft argumentieren, dass es „nicht immer nur um Zahlen“ ginge. In erster Linie mußte er Vertrauen zu den Wohnungslosen aufbauen – dazu braucht es einen langen Atem und viel Verständnis. Auch braucht es immer wieder den persönlichen Kontakt und das Nachfragen – wie bei Katrin und Deniz.
Derzeit besteht der Chor aus knapp 20 Sängerinnen und Sänger. Kommt man in die Probe, so sehen sie aus wie du und ich. Sie sind gepflegt, ordentlich gekleidet, können zusammenhängende Sätze sprechen und verströmen keine unangenehmen Duftwolken. Wichtigste Spielregel: natürlich haben sie alle vor der Probe keinen Alkohol getrunken. Dienstags um 10 Uhr in Hannover – Menschen wie du und ich.
Exkurs: Der Name „Obdachlosenchor“ ist eigentlich nur ein Art Arbeitstitel, der deutlich zeigt und zeigen soll, worum es tatsächlich geht – korrekt heißt er „Chorwerk“. Der Träger des Chorwerks ist der Niedersächsische Chorverband unterstützt von der Bürgerstiftung Hannover und dem Diakonischen Werk Hannover.
Doch irgendetwas ist anders. Jürgen (60) sagt über die Chorsänger: „Sie haben Farbe im Herzen.“ Schönamsgruber nennt seine Mitsänger den „Chor mit Seele“. – Sie sind freundlich und zugewandt. Manchmal blitzt für einen klitzekleinen Augenblick eine Schüchternheit oder Ängstlichkeit auf – sie alle haben ihre Erfahrungen gemacht! In dem geschützten Raum des Gemeindehauses und der Gemeinschaft bewegen sie sich aber souverän und ungezwungen. Wenn sie erst einmal anfangen zu singen, blitzen ihre Augen und ihre Körper tanzen wie von selbst zum Rhythmus – als ob sie das schon immer ganz genau so gemacht hätten. Mancher Chorleiter würde sich genau diese innere Beteiligung wünschen!
Dabei sind sie sehr unterschiedlich: die jüngste Sängerin, Laureen, ist Mitte zwanzig, der älteste Sänger, Günter, 88 Jahre. Sie kommen aus Amerika, Brasilien, Dänemark, Italien, dem Kosovo, Russland, Syrien und Vietnam. Auch wenn der Probenort ein evangelisches Gemeindehaus ist, so spielt Religion im Chor keine Rolle. Auch sind nicht alle aktuell wohnungslos oder waren je wohnungslos. Bernd L. (78) war nach seiner Lehre eine Zeitlang wohnungslos. Er hatte bei seinem Meister gewohnt und musste die Wohnung nach der Lehre als Tierpfleger räumen. Mit der unsicheren Arbeitslage und dem geringen Einkommen war eine Unterkunft nicht in greifbarer Nähe.
Faya (63) ist aus Syrien geflohen und hat in Deutschland zunächst erst einmal die Erfahrung eines Aufnahmelagers machen müssen. Das ist schon ein wenig wie heimatlos – wenn auch mit einem Dach über dem Kopf. Bernd B. (70) musste/konnte nach der Trennung von seiner Freundin erst einmal bei Freunden und Bekannten Unterschlupf finden – aber auch nicht auf Dauer, denn das „darf man nicht überstrapazieren“. Es folgten Gemeinschaftsunterkünfte unterschiedlicher Art. Nach 10 Jahren hat er vor zwei Monaten wieder eine eigene Wohnung bezogen.
Jürgen ist im Moment der Einzige im Chor, der auf der Straße lebt. Lange hatte er bei seinen Eltern gelebt. Nach dem Tod der Mutter stand er auf der Straße. Er lernte schnell, wo er nicht gern gesehen ist und was in Deutschland verboten ist, wie das Schlafen im eigenen Auto. Zurzeit „schläft“ er in einer Obdachlosenunterkunft im Sitzen auf einem Stuhl. Vier Stunden bekommt er pro Nacht maximal zusammen – aber es ist nur ein Halbschlaf. Ein ständiger Begleiter ist die Angst, bestohlen zu werden oder dass einem etwas anderes passiert.
Faya erzählt, wie nach all den Gräueltaten, die sie im Krieg in Syrien gesehen hatte, ihre Stimme einfach weg war. Nach Hannover ist sie gekommen, weil ihr Sohn hier studiert. Im Chor ist dann die Stimme wieder gekommen: Singen mit anderen – das kann therapeutische Wirkung haben!
Obdachlose sind Einzelkämpfer. Ihr Alltag ist geprägt vom Kampf um eine Toilette und eine Dusche, etwas zu essen und einen Schlafplatz; im schlimmsten Fall gegen die eigene Abschiebung. Der Obdachlosenchor versteht sich als Anlaufstelle für diese Menschen, deren wichtigstes Anliegen es ist, wieder eine Struktur in ihr Leben zu bekommen. Einmal in der Woche einen festen Termin haben – das ist für viele der Betroffenen schon eine Herausforderung, gleichzeitig aber ein wichtiger Schritt zu sich selbst und in eine wieder selbstbestimmte und behütete Zukunft.
Die Aufnahme in den Chor ist denkbar einfach: man geht hin und sagt, dass man da ist. Ein Vorsingen, Notenkenntnisse, ein Mitgliedsbeitrag – all das gibt es nicht. Man kann aber auch einfach von einem anderen Chorsänger mitgenommen werden, dann ist man auch dabei. Oder man traf sich – zu Coronazeiten – zufällig im Georgengarten „unter den drei Bäumen“, wo der Chor damals probte. Man blieb stehen, lauschte, sang mit und ging nicht wieder fort.
Gesungen wird einstimmig. Schönamsgruber spielt Gitarre und der Chorleiter Rudolf Neumann ist wie jeder andere Chorleiter auch: Lockerungsübungen für Körper und Stimme, Einsingübungen (la–la-la) und bitte: „ein bisschen Konzentration“. Alle Musik scheint für den Chor in Frage zu kommen von Volksliedern bis zu deutschen Liedermachern und amerikanischen Rockröhren.
Ein wenig aber haben manche Lieder auch mit der Situation der Obdachlosen zu tun. So ist das Lied „Wir wollen aufstehen, aufeinander zugehen, voneinander lernen, miteinander umzugehen“ von Clemens Bittlinger so etwas wie die heimliche Chorhymne. „Es wird Zeit, sich zu bewegen, höchste Zeit, dass was passiert“ heißt es in einer der Strophen und in einer anderen „Neue Lieder wolln wir singen, neue Texte laut und klar“.
Auf die Melodie von Leonard Cohens „Halleluja“ singen sie: „Die Seele ruht beim Singen aus, das ist es, was du gerade brauchst, drum komm und sing mit uns dein Hallelujah!“ Mit dieser Botschaft bleiben die Sangesleute nicht im Gemeindehaus – sie gehen hinaus in die Welt und zeigen sich. Das ist nicht immer ganz einfach. Auch alte Bekannte von ihnen wechseln mal aus Scham und Unsicherheit, wie man mit ihnen umgehen kann, die Straßenseite. So stehen sie für sich selbst auf und zeigen, dass sie nicht aufgeben. Sie zeigen, dass sie etwas können und bringen ihre Botschaft, ihre Freude und ihre Lieder zu Gehör – etwa auf der Bühne des Weihnachtsmarktes vor der Marktkirche oder am vergangenen Freitag vor 12.000 Besuchern beim großen Stadionsingen in der Heinz von Heiden Arena am Maschsee.
Weitere Informationen:
- Der Chor probt (außer in den Schulferien) dienstags im Gemeindehaus der der Gartenkirche St. Marien, Marienstraße 35. Einfach hingehen – oder vorher mal bei Willi Schönamsgruber melden: willi.schoenamsgruberweb.de (willi[dot]schoenamsgruber[at]web[dot]de) oder 0 15 14 / 1 93 03 21
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