„Fair is foul, and foul is fair“. So umwispern im schottischen Nebel die Hexen Macbeth; vielleicht aber sind es auch nur die verführerischen Stimmen aus dem Innersten des finsteren Helden. Entsprechend schlecht ist das Image des Mottos: nihilistischer Relativismus, Infragestellen aller Werte. Man kann das Hexen-Credo aber auch positiv sehen: als heilsame Aufforderung, sich von den obligaten Polarisierungen und rigiden Grenzziehungen zu verabschieden – gut und böse, schön und hässlich, sinnvoll und sinnlos, nützlich und unnütz, Kunst und Nicht-Kunst.
Schließlich lehrt nicht zuletzt die Kunstgeschichte die Fragwürdigkeit von Normen und Idealen als angebliche Ewigkeits-Werte. Vollends enthüllten die berüchtigten NS-Ausstellungen über „Entartete“ Kunst wie Musik, dass gerade besonders brutal-perverse Systeme um so plakativer heile Welt und gesundes Volksempfinden verordneten. Fatal wirkte des seligen Winckelmanns Formel „Edle Einfalt, stille Größe“ weiter: Erhaben sollte das „Meisterwerk“ sein, ein Edelmensch, der es schuf. Der Genie-Kult sorgte denn auch für all die pompösen Denkmäler, die Klassiker-Gipsbüsten auf dem Klavier und die zurechtstilisierten, überschönten Porträts. Am nächsten der Realität kam wohl Ilja Repins Gemälde des schweren Alkoholikers Mussorgski. Und in England und Frankreich führten „Schwarze Romantik“ und die poètes maudits zum Kult mit dem Abseitigen und Abgründigen. Während in Deutschland Idealismus und „Absolute Musik“ die Idee weltabgehobener Klassizität dominieren ließen: Große Künstler hatten ästhetisch-moralische Vorbilder zu sein. Beethoven wurde so zur höchsten Identifikations-Figur. Dass zum exzessiven Werk auch ein ebensolcher Schöpfer gehörte, war für das Bildungsbürgertum unvorstellbar.
Die Gegenposition bildete das Buch „Genie, Irrsinn und Ruhm“ des Psychiaters Lange-Eichbaum von 1928 mit der keineswegs unheiklen These, dass Menschen, die in irgendeiner Hinsicht Überragendes leisten, eben auch realiter in dieser oder jener Weise „abnorm“ seien. Der Künstler als „Kranker“, das „geschlagene“ Genie wurde zum Topos, die „Mörder“ (Caravaggio, Cellini, Gesualdo), die Selbstmörder oder in Umnachtung Endenden avancierten zu besonderen Ikonen des Schöpferischen. Die Umkehrung: der Kranke als Künstler, lag nicht nur nahe, sondern auch das Quidproquo: Wo hört das Geniale auf, wo beginnt das Pathologische? – und umgekehrt.
So wurde beim Linzer Brucknerfest 1996 zum 100. Geburtstag eine Oper kreiert: „Geschnitzte Heiligkeit – Anton Bruckner und die Frauen“. Da wird der unbeholfene Meister, jungen Frauen zugetan, doch aussichtslos, in die Gegenwart gebeamt, erlebt den Bruckner-Kult, empfindet sich selbst als „Heutklassiker“ und „Gesterntotalzerrütteter“, lernt ein Mädchen kennen, das ihm zugetan ist – und bringt, völlig verwirrt zwischen gestern und heute, Wahn und Wirklichkeit, Kunst, Glaube und Trieb, dieses um: Anton the Ripper. Dies als bloß frivole Spekulation abzutun, wäre zu einfach. Denn: Wie kann Sexualität vom Schöpfertum absorbiert werden – wie sehen die Weichenstellungen aus, die den komponierenden vom sexualmörderischen Triebtäter trennen?
Und: Wo lassen sich im Werk „geisteskranker“ Künstler die Symptome des „Irrsinns“ nachweisen, gibt es eine Affinität zwischen Genie und Zerrüttung, Werk und Wahngebilde?
Wer die Adolf-Wölfli-Ausstellung in Ingelheim sieht, findet mancherlei Anregung, diesen Fragen nachzugehen. Denn auch Wölfli, 1864 geboren, wird „auffällig“: wegen Notzuchtversuchs an zwei Mädchen 1890 zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt, nach einer Wiederholungstat 1895 in die psychiatrische Heilanstalt Waldau bei Bern gebracht, wo er bis zu seinem Tod 1930 bleiben muß. Um 1900 beginnt er mit dem Zeichnen, das immer mehr zur graphischen Projektion eines Phantasie-Universums wird, und ab 1908 widmet er sich seiner Autographie „Von der Wiege bis zum Graab“, in der er eine märchenhaft ruhmreiche Herkunft und überglückliche Kindheit manisch detailliert ausmalt. Unablässig zeichnet und malt er, beschreibt in langen Texten, kunstvoll über und durch Bilder geschlungen, über viele Seiten die abenteuerlichsten Weltreisen – obwohl er den Kanton Bern nie verlassen hat – und stilisiert sich zum galaktischen Allherrscher. Als paranoiden Größenwahn ließe sich dies gewiss bezeichnen; doch was besagt dies schon? Wölflis nicht nur parallel entstandenen Texte und Bilder, übrigens auch Kompositionen, sondern das ganze in Waldau Geschaffene rundet sich zum gigantischen Gesamtkunstwerk.
Wölflis Waldauer Arzt Walter Morgenthaler, dessen Verdienste gar nicht hoch genug eingeschätzt werden können, veröffentlichte 1921 „Ein Geisteskranker als Künstler“; quasi parallel dazu erschien Prinzhorns „Bildnerei der Geisteskranken“. Wölfli wurde, weit über den tristen klinischen Fall hinaus, zum ästhetischen Paradigma. Rilke und Lou Andreas-Salomé waren fasziniert; erst recht sahen die Surrealisten, vor allem André Breton, in Wölflis spontanen poetisch-bildnerischen Assoziationsverkettungen mirakulöse Belege für die autonome „écriture automatique“. Der legendäre Schweizer Ausstellungsmacher Harald Szeemann hat bei der Kasseler documenta, besonders aber mit der für viele zum Erweckungserlebnis gewordenen Zürcher Schau „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ (1983) die Einmaligkeit Wölflis verdeutlicht. Weiteres Interesse hatten schon die Schizophrenie-Studien Leo Navratils geweckt. Hinzu kam die frappierende Frankfurter Ausstellung „Avantgarde und Okkultimus“.
Ein Einzelfall jedoch war Wölfli nicht. Da gab es etwa Ernst Herbeck mit seinen „Alexander“-Gedichten. Und eine Ironie der Geschichte: Von 1929 bis 1930 war auch der Schriftsteller Robert Walser in Waldau interniert. Darüber, ob die beiden voneinander wussten, gar Kontakt hatten, ist zumindest kaum etwas bekannt geworden. Frappierend bei Wölfli auf jeden Fall ist nicht die Geisteskrankheit, sondern auch die eklatante Mehrfachbegabung, das sogar gleichberechtigte Ineinandergreifen von bildnerischer und sprachlicher Fantasie-Produktion. Deutliche Analogien ergeben sich vor allem zu dem litauischen Maler und Komponisten Mikalojus Čiurlionis, dessen Gemälde ebenfalls kosmologische Halluzinationen, Mythen-Konstruktionen entwerfen. Von manchen Wölfli-Labyrinthen führen die Wege zu den nur scheinbar simplen Musik-Bild-Notaten Erik Saties, den Spiral-Bildern Hundertwassers wie zu den Text-Kreiseln Ferdinand Kriwets. Komponiert haben übrigens auch der Maler James Ensor (alles in Ges-Dur), der Dadaismus-Urvater Marcel Duchamp und der ebenfalls verwirrt endende Lyriker Ezra Pound. Und, ein besonderes Kuriosum: Sogar Karl May hat nebenher komponiert. Doch die Parallelen zwischen ihm und Wölfli gehen noch weiter: Beide schrieben die exaltiertesten Reise- und Abenteuergeschichten über Weltgegenden, die sie (noch) bereist hatten. Und beide neigten dazu, sich mit ihren Helden überdimensional zu identifizieren, May eher hochstaplerisch, Wölfli im Größenwahn.
Um nicht missverstanden zu werden: Karlheinz Stockhausen war von außerordentlicher Rationalität, ein polyglotter, technokratischer Alleskönner der Musik, alles andere als ein Wahnhafter. Doch die intergalaktische Selbstmythologisierung der eigenen Person wie des Clans im Sinne eines religiös-kosmischen Heilsprozesses zeugt von ähnlichem Streben nach Aufhebung der Differenz zwischen Ich und All.
Natürlich hat das symbolistisch-surrealistische, partiell auch jugendstilhafte Kunst-Universum Wölflis auch und gerade die Komponisten in seinen Bann gezogen. Georg-Friedrich Haas schrieb eine Kammeroper „Adolf Wölfli“ (1983), Per Nørgård „Der göttliche Tivoli“, Karlheinz Essl „ALLgebrah“ und Georges Aperghis eine Wölfli-Kantate. Am manifestesten freilich wirkte sich die Suggestion bei Wolfgang Rihm aus, der es ohnehin mit den Zerrütteten hält: Hölderlin, Schumann, Nietzsche, Baudelaire, Rimbaud, Artaud, Herbeck, Robert Walser, nicht zuletzt Büchners Lenz. 1982 hat Rihm den Ausgangspunkt der „Wölfli-Lieder“ fixiert: „Texte, die das kraß offenlegen, eine seelische Not, beispielsweise bei Wölfli das Bewältigen der Kinderschändung, weswegen sie ihn eingesperrt hatten.“ Von der Identifikation mit dem manisch vom eigenen Schaffenstrieb verschlungenen Wölfli zeugt das letzte der sieben „Wölfli-Lieder“, in dem Rihm rabiat vom Medium des romantischen Klavierlieds Abschied nimmt. Es ist nur noch für zwei große Trommeln bestimmt, quasi programmatisch überschrieben: „(Wölfli arbeitet wie irr, schreibt und zeichnet wie wahnsinnig, bemalt alles wie verrückt, baut wie von Sinnen)“. Wenn vor allem Jean Dubuffet in Wölfli einen Vorgänger der Art Brut sah, dann hat Rihm die Parallel-Brücke in die Musik errichtet. Die Ingelheimer Ausstellung ist also nicht nur für Bild- und Text-Interessierte ein Anregungs-Erlebnis.
Die Ausstellung im Alten Rathaus Ingelheim läuft noch bis 10. Juli.
Der Katalog kostet 29,80 Euro.