Mitte September in Berlin, Eröffnungskonzert des „Kontakte“-Festivals für Elektroakustische Musik in der Akademie der Künste. Gemeinsam mit Sängerin Anna Clare Hauf porträtiert das Ensemble Mosaik den österreichischen Komponisten Clemens Gadenstätter, bekannt für seine technologisch ausgefeilten, gerne auch multimedialen Setups, mit denen er sein Publikum zu expressiv vielschichtigen Musiktrips der geradezu psychedelischen Art einlädt.
Im Konzert erfahrbar wird nahezu perfektes Zusammenspiel bei kalkuliert instabilen Klangzuständen und extrem voltenreichen Verläufen der Musik, die in der Vorstellung des Komponisten als Sinnbild für die ständige gegenseitige Beeinflussung und wechselseitige Bedingtheit von Ich und Umwelt aufgefasst werden kann. Die stark erweiterte Palette neuer Spieltechniken an historischen Instrumenten, der virtuose Umgang mit teils ungewöhnlichem Instrumentarium wie Synthesizern oder weiteren, via Energiewandlern angeregten Klangobjekten, das unauflösliche Ineinander oder präzise Wechselspiel zwischen analog produzierten und elektronisch transformierten Klängen, akustischen und visuellen Zuspielungen sind nicht nur charakteristisch für die Musik Gadenstätters und inzwischen auch vieler jüngerer Kollegen, sondern geradezu idealtypisch für die Konzerte des 1997 in Berlin gegründeten Ensemble Mosaik.
Dabei wird die phantastische Fülle ungewöhnlicher Mittel und Techniken der Schallproduktion und -artikulation auf der Bühne regelmäßig um weitere Wahrnehmungsebenen erweitert, so dass faszinierende Mischungen verschiedenster Sinneseindrücke entstehen. Durch das regelmäßig praktizierte, vielgestaltige Zusammenwirken instrumentaler, performativer, elektronischer, multimedialer oder szenischer Ausdrucksmittel und verschiedenster Aufführungssituationen ist beim Ensemble Mosaik im Laufe der Jahre eine völlig neue Spielkultur gewachsen, die für viele jüngere Ensembles längst zum Leitbild wurde. Der Körpereinsatz auch jenseits der einst studierten Fähigkeiten, die gemeinsame Forschungsarbeit in puncto neuer Spieltechniken und instrumentaler Setups, setzen ein hohes Maß an Experimentierfreude und Bereitschaft zu ständigem Lernen voraus. Und genau diese Eigenschaften sind den inzwischen dreizehn Musikern des Ensembles, von denen ein Großteil bereits von Anfang an dabei ist – darunter mit Arne Vierck auch ein Klangregisseur, Software- und Elektronikspezialist – in höchstem Maße gegeben. Dass die meisten Mitglieder immer wieder auch in anderen musikalischen Kontexten unterwegs sind, erweist sich für die Ensemblearbeit zudem als überaus befruchtend.
Vieles gemeinsam entwickeln
Die große Neugier und Leidenschaft, sich sowohl in den Bereichen Komposition, Aufführung wie Präsentation mit digitaler Technik zu beschäftigen, wurzelt – so die Flötistin, künstlerische Leiterin und „Seele“ des Ensembles Bettina Junge – in der 2002 begonnenen, bis heute mehrfach erneuerten Zusammenarbeit mit dem Komponisten und Technikfreak Orm Finnendahl, damals Leiter des Instituts für Neue Musik an der Universität der Künste/Hochschule für Musik Hanns Eisler. Der multimediale Ansatz wiederum trug zunächst besonders reiche Früchte in den frühen Projekten mit Michael Beil, der in seinen Werken die klassische Konzertsituation anhand konzeptueller Videoarbeiten zu reflektieren begann, indem er die ritualisierten Aktionen der Musiker als visuelles Material weiterverarbeitete – dies ein in langen gemeinsamen Entwicklungs- und Probenphasen nur mit dem Ensemble gemeinsam zu entwickelnder Ansatz, der nach Beils eigener Auskunft für seine bis heute praktizierte Arbeitsweise konstitutiv gewesen ist. Insgesamt gilt für die Ensemblearbeit, wie es Junge formuliert: „Wir kriegen nicht nur neue Noten und spielen die dann, sondern entwickeln Vieles gemeinsam.“ Entsprechend wird im Ensemble auch grundsätzlich eine egalitäre Arbeitsweise bevorzugt.
Seit den Anfängen haben sich immer wieder lang anhaltende intensive Arbeitsbeziehungen mit Komponist*innen ergeben, darunter etwa Clara Iannotta, Sarah Nemtsov, Carlos Sandoval, Stefan Streich und nicht zuletzt Enno Poppe, der als Dirigent seit 1998 festes Mitglied im Ensemble ist und mit Werken (und „Dauerbrennern“) wie „Salz“, „Speicher“ oder „Rundfunk“ (für neun Spieler an neun Keyboards!) nicht unwesentlich zum „Team-Building“ beigetragen hat. Vor allem aber macht sich das Ensemble Mosaik seit seinen Anfängen um den komponierenden Nachwuchs verdient – oft im Verbund mit verschiedenen Kooperationspartnern wie Goethe-Institut, Ernst-von-Siemens-Musikstiftung oder Berliner Klangwerkstatt. Zu den Komponisten, deren Karrieren man wichtige Impulse verleihen konnte, zählen etwa Eduoardo Moguillansky, Stefan Prins, Christian Winther Christiansen oder in jüngerer Zeit die aus den USA stammenden Catherine Lamb oder Joshua Mastel. Das direkte Umfeld in Berlin bietet für die programmatische Arbeit übrigens allerbeste Voraussetzungen, leben in dieser Stadt mit ihrer Vielzahl von Neue-Musik-Initiativen, Spielorten, Ensembles, Festivals doch zahllose Komponist*innen aus aller Welt, die in der meist berechtigten Hoffnung hierher gezogen sind, sich hier besser vernetzen zu können und regelmäßig aufgeführt zu werden.
Der Startschuss für das Ensemble fiel im Jahr 1997 – mit einer intern inzwischen legendären Konzertreise in die damalige europäische Kulturhauptstadt Thessaloniki mit anschließendem Urlaub (statt Gage!), der dann zum genaueren Kennenlernen genutzt wurde. Die große Stabilität der personellen Zusammensetzung seither, die dank des privaten Engagements des Keyboarders Ernst Surberg feste Heimstatt in einem Werkhof an der Lehrter Straße unweit des Berliner Hauptbahnhofs, ausgestattet mit Veranstaltungssaal, Büro, Küche und Probenraum samt Schlagzeugfundus sind entscheidende Grundlagen für die hohe Qualität der künstlerischen Arbeit und den bis heute – trotz organisatorisch extrem anstrengendem Covid-Intermezzo – stets wachsenden Erfolg. Nach den ersten zehn Jahren gemeinsamer Arbeit wurde dem Ensemble vom Berliner Senat 2009/10 erstmals eine Basisförderung gewährt, die mit der Zeit zwar immer höher ausfiel, auf die sich aber alle zwei Jahre aufs Neue zu bewerben ist, was eine langfristigere Planung natürlich sehr erschwere, so Junge. Immerhin wurde es möglich, durch die Strukturförderung ein zweiköpfiges Organisationsteam zu engagieren, das die Musiker während der intensiven Proben-, Auftritts- und Reisezeiten (im Jahr 2019 absolvierte das Ensemble zum Beispiel 38 Konzerte) von Aufgaben wie Konzertakquise, Antragsstellung, Abrechnung entlastet.
Wirtschaftlich gesehen sei die Arbeit im Ensemble einigermaßen existenzsichernd, aber absolut nichts Bequemes, wie Junge betont: „Alle stecken irre viel Arbeit und Zeit hinein, man kann sich nie zurücklehnen. Wir arbeiten unheimlich viel und machen das auch gerne, aber für mich persönlich wäre es sehr wünschenswert, wenn wir das Team noch etwas vergrößern, die Planungszeiträume verlängern könnten, so dass wir auch im Ensemble mehr Zeit hätten, gemeinsam Ideen auszutüfteln. Mehr Sicherheit zu haben, etwa eine feste eigene Berliner Konzertreihe und eine Strukturförderung, die über zehn Jahre Bestand hätte, wäre wunderbar. Wir powern so nach vorne die ganze Zeit, machen so viel, doch auch wenn es Spaß macht, bringt uns das alle an die Grenzen.“ Die lange Existenz und Stabilität des Ensembles sei hier zwar hilfreich, aber alles bleibe am Ende sehr zerbrechlich. Dieser Not geschuldet, entfaltet das Ensemble flankierend auch zahlreiche kulturpolitische Aktivitäten, etwa durch die Vernetzung in der initiative neue musik (inm) Berlin oder dem Verband für freie Ensembles und Orchester in Deutschland (FrEO).
Ästhetische Vielfalt
Im steten Wechsel zwischen verschiedensten Konzert-, Musiktheater und Multimediaformaten immer wieder Experimente zu wagen, Laborsituationen zu schaffen, die künstlerische Forschungsarbeit ermöglichen, gehört zum Markenkern des Ensembles. Natürlich trete man gerne als Kollektiv starker Individuen mit eigenen künstlerischen Vorstellungen auf, doch, so der Cellist Niklas Seidl, möchte man Komponisten gleichermaßen eine Plattform für verschiedenste künstlerische Möglichkeiten bieten: „Im Ensemble herrscht dabei absolute Meinungsvielfalt: Manchen macht etwas total Spaß, andere wollen am liebsten ihr Veto einlegen. Das entspricht aber auch der Idee der Neuen Musik, dass man nicht nur den Kanon pflegt, sondern ausprobiert, was möglich ist.“
Nachdem Programmentscheidungen zunächst basisdemokratisch, dann Gremium-basiert, teils auch durch externe Anregungen zustande kamen, gibt es heute dreimonatliche Ensembletreffen, bei denen jeweils Rückschau gehalten wird und neue Ideen gesammelt werden, aus welchen Junge dann die Programme entwickelt. In der höchst eloquenten, inhaltlich durchweg substanziellen Jubiläumsschrift des Ensembles stößt man auf eine schier unüberschaubare Fülle künstlerischer Projekte und Konzertaktivitäten im Rahmen verschiedenster Kooperationsmodelle, darunter die seit 2012 durchgeführten Werkstattfestivals „UpToThree“ im Acker Stadt Palast, bei denen in verschiedenen Solo- bis Trio-Besetzungen Studien zu geplanten Ensembleprojekten vorgestellt und eigene Projektideen der Musiker erprobt werden. Oder die jährlichen Konzerte des Progetto Positano, in denen jeweils zwei Stipendiaten der Casa Orfeo, einer von der Wilhelm-Kempff-Kulturstiftung betriebenen Künstlerresidenz, vorgestellt werden. Oder die Konzerte mit dem aus Sonar Quartett, Ensemble Adapter, Ensemble Apparat, Ensemble Mosaik zusammengesetzten Ensemblekollektiv Berlin.
Klangut-Katalog
Die von Patrick Klingenschmitt dramaturgisch betreute Konzertreihe „realities, places and displacement of places“ beschäftigt sich mit „verändernden Weltbezügen in Folge transformativer urbaner Prozesse“, die Reihe „Documentation in Music“ wiederum begibt sich auf der Grundlage ökologischer, soziologischer und historischer Forschung auf virtuelle Reisen an entlegene Orte und in frühere Epochen. Hinzu kommen seit vielen Jahren meist im Auftrag des Goethe-Instituts absolvierte internationale Tourneen etwa nach Südostasien oder Mexiko, internationale Education- und Netzwerkprojekte und regelmäßige Gastauftritte bei wichtigen Festivals für Neue Musik in Stuttgart, Huddersfield oder ’s-Hertogenbosch, aber auch an kleineren oder exotischeren Orten wie Tosterglope im oldenburgischen Land oder auf den Kanarischen Inseln.
Im Mittelpunkt des Jubiläumsjahrs steht allerdings die seit Juni im Kesselhaus der Kulturbrauerei am Prenzlauer Berg dargebotene fünfteilige Reihe sogenannter „Klanggutkatalog“-Konzerte, in denen als „Querschnitt prozesshafter und vielseitiger Kreativität“ thematische Konzeptionen voriger Projekte aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Wie überhaupt die programmatische Arbeit des Ensembles seit 25 Jahren durch vernetztes/vernetzendes Denken die Anmutung organischen Wachstums vermittelt. Der dritte „Klanggutkatalog“ wird unter dem Motto „Sichtbare Musik“ am 12. Oktober 2022 aufgeblättert, wobei visuelle und rituelle Ebenen der Darbietung einer übergreifenden szenischen Gestaltung unterzogen werden. In gewohnter musikpraktischer, interdisziplinärer und weltoffener Darbietungsvielfalt zu erleben sein werden Werke für singende Banjo-Spielerin, Ensemble und Turntables von Annesley Black, für den Sprecher Jakob Diehl (zuletzt im Fernsehfilm „Die Wannseekonferenz“ eindrücklich zu erleben) und Ensemble von Sergej Newski, für „nicht obligates Ensemble und Musiknotationssoftware“ von Alan Hilario und für Violine, zwei Keyboards, Percussion, Cello und Zuspiel von Lawrence Dunn.