Es beginnt mit einem Alptraum. Ein tiefes Dröhnen, ein Surren, elektronische Klänge vom Band. Es rauscht, es blubbert, es quietscht. Eine Stimme ist zu hören, Silben, Gesangsfetzen, Schreie, eine Frau außer Atem, auf der Flucht. Es knackt, es knirscht, es klirrt. Es könnte der Soundtrack zu einem Psychothriller sein. Es ist der Anfang der wohl ersten Oper in arabischer Sprache: „Halman asfarat“, „Ein Traum ist sie“.
Eine Pioniertat, die die libanesische Komponistin Joëlle Khoury für sich reklamiert – quirlige Professorin am Libanesischen Nationalkonservatorium, Pianistin und Jazzmusikerin. Die Idee zu einer Kammeroper in arabischer Sprache hat sie in Gesprächen mit der Sängerin Fadia el-Hage entwickelt, die ebenfalls aus dem Libanon stammt und in Deutschland vor allem durch ihre Zusammenarbeit mit dem Alte-Musik-Ensemble Sarband bekannt ist. Anderthalb Jahre lang lag das „Monodram für Altstimme, fünf Solisten und Elektronik“ schon fertig in der Schublade, bis sich dieses Jahr endlich eine Aufführungsmöglichkeit bot. Doch dann entluden sich im Mai, kurz bevor es soweit war, die lange schwelenden politischen Konflikte des Landes in Gewalt, die Hisbollah besetzte kurzzeitig Westbeirut, ein Bürgerkrieg schien vor der Tür zu stehen. Absagen oder nicht? Die Musiker, darunter das belgische Ensemble „Fragments“, waren schon gebucht. Joëlle Khoury entschied sich fürs Weitermachen. „Wir sind ein Risiko eingegangen“, sagt sie jetzt, wo die Lage sich wieder beruhigt hat, „aber in Beirut ist man sowieso nie sicher – hier kann jederzeit alles mögliche passieren.“
Ein Risiko ist Kultur – nicht nur Neue Musik – im Libanon immer. Es gibt praktisch keinen staatlichen Kulturhaushalt, Subventionierung ist ein Fremdwort. Die politische Situation, der Krieg mit Israel 2006, die Bombenanschläge und Attentate der letzten Jahre haben das Kulturleben der Hauptstadt fast zum Erliegen gebracht. Die Veranstalter sind vorsichtig geworden. Das Sommer-Festival in den antiken Ruinen von Baalbek, das wichtigste kulturelle Event des Landes, musste zweimal in Folge abgesagt werden. Als Komponist Neuer Musik ist man unter diesen Umständen erst recht sein eigener Manager. In Windeseile hat Joëlle Khoury vor der Uraufführung selbst Sponsoren zusammengesucht, die meisten davon leisten eher einen symbolischen Beitrag. Am Ende bezahlt sie den Großteil des Projekts aus eigener Tasche. So wird es am 12. Juli eine konzertante Uraufführung im Auditorium der von den Jesuiten gegründeten französischsprachigen Universität. In Beirut gibt es kein Opernhaus wie in Damaskus oder Kairo. Trotzdem ist es womöglich kein Zufall, dass gerade hier die Geburtsstunde der arabischen Oper schlägt.
Mögen sie sich in Qatar von den Öl- und Erdgasmilliarden gerade ihr Symphonieorchester zusammenkaufen, mögen sie in Dubai an einem Opernhaus basteln, das alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen soll – glaubt man den Libanesen, schlägt das Herz der arabischen Kultur doch noch immer in Beirut, zwischen Bürgerkriegs-Ruinen und funkelnden Business-Towers, hier, wo sich Orient und Okzident begegnen – und wo europäische Kultur traditionell einen hohen Stellenwert hat. Das geht so weit, dass manche Komponisten insbesondere der älteren Generation die arabische Musiktradition für hoffnungslos unterlegen halten – der heute 86-jährige Toufic Succar zum Beispiel, der gleichwohl in seinen eigenen Werken häufig von der heimischen Folklore ausgegangen ist. Succar glaubte die vierteltönigen orientalischen Melodien dadurch zu „veredeln“, dass er sie nach westlichem Muster harmonisierte oder zum Ausgangspunkt polyphoner Texturen machte. Die Kolonialisierung habe bewirkt, dass im kollektiven Bewusstsein die europäische Kultur noch immer als etwas Besseres betrachtet werde, meint Joëlle Khoury; sie selbst muss sich heute allerdings gleichzeitig gegen den Vorwurf des Snobismus’ verteidigen, weil sie sich für die westliche Avantgarde begeistert. „Wenn ich jetzt eine Oper in arabischer Sprache schreibe, ist das auch eine Brücke zwischen den Libanesen und mir. Für sie gelte ich als exzentrisch. Aber das bin ich gar nicht.“
Gibt es überhaupt ein Publikum für zeitgenössische Musik im Libanon? „Nein, überhaupt nicht“, antwortet Boghos Gélalian, neben Succar der andere Altmeister der libanesischen Musik, ganz kategorisch. Der 81-Jährige hat in Kaffeehäusern gespielt, die libanesische Diva Fairuz begleitet, selbst aber stets kompromisslos modern komponiert. Es gäbe immer weniger Kenner hier, meint er, und: „Wir werden doch immer arabischer“ – und bei ihm klingt das wie ein Stoßseufzer. Andererseits hat sich in den letzten Jahren in Beirut eine sehr lebendige Szene für experimentelle improvisierte Musik entwickelt. Das alljährliche kleine Festival „Irtijal“ zieht ein zahlenmäßig durchaus beachtliches, erstaunlich junges Publikum an. Die Neugierde ist also da. Als Joëlle Khoury vor sechs Jahren erstmals ihre eigenen Kompositionen aufführte, war das das wohl erste reine Neue-Musik-Konzert im Libanon, seit Karlheinz Stockhausen 1969 „Hymnen“ in den Tropfsteinhöhlen von Jeita zelebrierte, und der Dirigent empfahl ihr, vorher jedem Besucher ein Beruhigungsmittel zu verabreichen. „Aber am Ende gab es Standing Ovations“, erinnert sich Joëlle Khoury.
Reflektierte Antworten
Diesmal, zur Premiere ihrer Oper, sitzen etwa 300 Zuhörer im geräumigen Auditorium. Im Foyer und auf den Gängen spricht man viel Englisch, Französisch, sogar Deutsch. Über der Bühne wird der Text der Oper in englischer und französischer Übersetzung projiziert. Beirut ist eine internationale Stadt, im Publikum sitzen viele Ausländer, auch ausländische Kulturfunktionäre. Das französische Centre culturel, das deutsche Goethe-Institut oder die amerikanische Botschaft sind wichtige Veranstalter und Kunstförderer im Libanon. Umgekehrt suchen nach wie vor viele libanesische Komponisten ihr Glück in der Fremde: Abdallah el Masri in Kuwait, Bechara El-Khoury, Zad Moultaka und Naji Hakim in Paris – Letzterer ist als Nachfolger Messiaens an der Sainte-Trinité-Kirche in Paris nicht nur Organisten ein Begriff. Gleichwohl müssen die meisten libanesischen Komponisten einen Spagat vollbringen: In ihrer Heimat gelten sie selbst mit gemäßigt modernen Klängen irgendwie als schräge Außenseiter; im Ausland dagegen rangieren sie meist unter ferner liefen. Es sei denn, sie setzen, bewusst oder unbewusst, auf die Assoziation „Libanon ist gleich (Bürger-)Krieg“, die in Europa noch immer für die meiste mediale Aufmerksamkeit sorgt. Der Comic-Zeichner und Improvisationskünstler Mazen Kerbaj hat zum Beispiel mit einer Aufnahme namens „Starry Night“ auch in Deutschland eine gewisse Bekanntheit erlangt: Während des Kriegs 2006 improvisierte er auf seinem Beiruter Balkon, während im Hintergrund die israelischen Bombeneinschläge zu hören sind. Und der in Paris lebende Pianist Rami Khalifé spielte besonders virtuos auf der Betroffenheitsklaviatur, als er anlässlich desselben Krieges, den er selbst aus der sicheren Ferne erlebte, seinen Klavierzyklus „Chaos“ komponierte. Bei Aufführungen stampft er pathetisch mit den Füßen und traktiert mit großer Geste die Saiten im Inneren des Klaviers, und angesichts des traurigen Kompositionsanlasses wagt man kaum zu sagen, dass das Resultat musikalisch von arg dürftiger Qualität ist. Und so findet man den derzeit vielleicht interessantesten libanesischen Komponisten nicht in Paris, nicht mal im pulsierenden Beirut, sondern an der nordlibanesischen Peripherie, in Tripoli, der orientalischsten Stadt des Libanon: Houtaf Khoury (mit Namensvetterin Joëlle nicht verwandt), Jahrgang 1967, hat sein Metier in Kiew gelernt, was man seiner zwischen Avantgarde und Neotonalität changierenden Orchester- und Kammermusik auch anhört. Seine Kompositionen zeichnen sich nicht nur durch solides Handwerk und Gespür für musikalische Architektur aus, sie überzeugen überdies als reflektierte künstlerische Antwort auf das so oft verdrängte oder aber plump zur Schau gestellte Leid der Libanesen. Houtaf Khourys Werke verzichten auf jede Effekthascherei, jeden offensichtlichen programmatischen Bezug und finden dadurch zu einer manchmal geradezu verstörenden Humanität. Orientalisch ist diese Musik höchstens in einem weiteren Sinn: in den weitausschwingenden melodischen Arabesken zum Beispiel, die sich in fahlen Klanglandschaften verlieren.
Ohne musikalische Arabismen
Mit Orientalismen hat auch Joëlle Khoury nichts am Hut: „Die traditionelle arabische Musik ist mumifiziert, aber ich bin doch lebendig!“ Sicher gebe es Einflüsse etwa im rhythmischen Bereich. „Aber ich fühle mich nicht verpflichtet, arabisch beeinflusste Musik zu schreiben.“ Wenn sie jetzt in ihrer Oper viele ungerade Rhythmen verwende, dann deshalb, weil sie es so fühle, und nicht, um ihren arabischen Wurzeln Rechnung zu tragen. „Ich mache keine Konzessionen. Ich mache meine Musik.“ Auch ihr Libretto hat sich Joëlle Khoury selbst erstellt, zusammenmontiert aus einzelnen Gedichtversen des libanesischen Lyrikers Jacques Aswad. Sie habe lange nach etwas Passendem gesucht, nach einem Text, mit dem sie sich identifizieren könne. Am Ende hat sie Fragmente aus 40 Gedichten Aswads zu einem surrealen Text kombiniert, der Krise und Sinnsuche einer Frau thematisiert – durchaus ungewöhnlich in einer männerdominierten Gesellschaft, die der Emanzipation in weiten Teilen weiterhin skeptisch gegenübersteht. Das Monodram beginnt mit Bildern von Entfremdung und Verlorensein: „Zwischen mir und dem, was ich sagen will/Eine Welt“, konstatiert die Frauenstimme und irrt durch den Wald ihres mächtigen Traumes, Schönbergs „Erwartung“ könnte Pate gestanden haben, aber Joëlle Khoury hat das Stück erst kennengelernt, nachdem die Komposition abgeschlossen war. Die Idee des Atems zieht sich wie ein Leitmotiv durch das Stück, vom angstvollen Außer-Atem-Sein bis zum lebensspendenden Atemschöpfen. Nach und nach weichen die beklemmenden Visionen versöhnlichen Naturbildern. Am Ende der etwa einstündigen inneren Reise steht eine „Ankunft“ mit unverhohlen spirituell-religiösen Anklängen; die Suche mündet in „umfassender und ferner Freude“, im „Licht“, in der Liebe. Musikalisch scheint die Suche allerdings noch nicht an ihr Ende gekommen zu sein. Es gibt (zu Beginn) vorproduzierte Elektronik vom Band, es gibt Anklänge an Schostakowitsch oder an die Zweite Wiener Schule (aber nicht, wie man es bei Joëlle Khoury vielleicht erwarten könnte, an den Jazz), es gibt spröde Chromatismen, beharrliche Klavierostinati und groteske Tänze im ersten Teil und verführerische Dur-Melodik, reine Quintklänge und lyrische Cellosoli im zweiten. Die Partitur ist stellenweise so komplex, dass sie trotz Quintettbesetzung einen Dirigenten (den Armenier Harout Fazlian) erfordert, der Flöte, Streichtrio und die Komponistin am Klavier koordiniert.
Im Zentrum aber steht die Stimme von Fadia el-Hage, die das expressionistische Psychodrama zwischen Sprechgesang und Kantilene so intensiv ausgestaltet, dass man die innere Suche voller Neugier mitverfolgt. Nur am Schluss, wenn Joëlle Khoury das Neue-Musik-unerfahrene Publikum mit tonalen Klängen versöhnen will, geht über aller Dur-Seligkeit die Spannung verloren, wirkt die letzte Etappe des Weges etwas langatmig. Dem einhelligen Applaus tut das freilich keinen Abbruch. Das also ist sie, die erste Oper in arabischer Sprache, und sie kommt ohne musikalische Arabismen aus. Aber in ihrer stilistischen Offenheit für die unterschiedlichsten musikalischen Einflüsse ist sie irgendwie doch zumindest typisch libanesisch. Die Oper als ein Ort, an dem sich die unterschiedlichsten Kulturen begegnen – wie Beirut.