Es sei an der Zeit gewesen. So kommentierte Reinhard Goebel die Nachricht, dass ihm die Bach-Medaille der Stadt Leipzig verliehen werden sollte. „Kein deutscher Musiker hat einen derart hohen Einfluss auf die Entwicklung der historischen Aufführungspraxis gehabt wie Reinhard Goebel“, befand die Jury damals, 2017. Nicht ganz stimmig an dieser Beurteilung ist die Wahl des Tempus. Denn Reinhard Goebel arbeitet unentwegt daran, das Werk eines Komponisten im engen Bezug zu dessen Zeit zu verstehen und auch interpretatorisch verständlich zu machen. Aktuell stellt der Musiker, Musikwissenschaftler und Dirigent den letztjährigen Jubilar Ludwig van Beethoven im Spiegel von Zeitgenossen wie Johann Nepomuk Hummel, Anton Eberl, Jan Václav Voríšek oder Antonín Reicha vor. Über „Beethoven’s World“, ein Langzeitprojekt mit Langzeitwirkung, über seinen Blick auf den Musikbetrieb und auch über das, was ihn antreibt, begeistert und wundert, sprach Reinhard Goebel mit Claudia Irle-Utsch.
neue musikzeitung: Ist Ihnen bei der intensiven Beschäftigung mit Beethoven der Komponist noch einmal besonders lieb geworden?
Reinhard Goebel: Beethoven ist mir schon sehr, sehr lieb geworden während dieser Zeit. Ich glaube auch, dass mein Verständnis von Beethoven um Kilometer, um Quadratkilometer, um Kubikkilometer gewachsen ist. In der leicht verwässerten Form, in der sich die Sachen der Zeitgenossen so bewegen, kann man die Kunstgriffe von Beethoven einfach leichter erkennen.
nmz: Wie haben Sie sich der Entdeckung von „Beethovens Welt“ genähert?
Goebel: Ich hatte schon einige Beethoven-Sinfonien gespielt – und dazu eine von Ferdinando Paër oder ein Klarinettenkonzert von Joseph Eybler –, als ich merkte, dass ich so mit Beethoven nicht weiterkomme. Und zwar deswegen, weil die Orchester mich bevormundet haben: „Das haben wir immer schon so gespielt …“ Ich hörte aber, das stimmt nicht. Die Gruppierung oder die Taktordnung, die wir hier machen, die stimmt einfach nicht. Ich wusste dann: Ich muss mir das total neu erarbeiten. Ich habe an der „Eroica“ – an der Strichbezeichnung, damit das so klingt wie Reinhard Goebel – sicherlich zwei Wochen von morgens bis abends gearbeitet. Ich möchte mir nicht vorsetzen lassen, was die Orchester da im Laufe von zehn, zwanzig Jahren Arbeit in ihre Stimmen alles eingetragen haben. Neben den Beethoven-Sinfonien kamen flankierend diese neuen Stücke dazu. Aber ich muss auch sagen – genauso wie im Umfeld von Bach: Wenn ich zehn Stücke spielen will, muss ich im Grunde genommen zwanzig ausprobieren. Die meisten Komponisten haben ja nur Haydn-Verschnitt komponiert und noch eine Prise Mozart drübergestreut.
nmz: Entstanden sind 300 lohnende Minuten von Wert auch für die lange Strecke …
Goebel: Durch die Publikation sind Orchester daran interessiert. „Oh, wir wollen auch mal Voríšek spielen, das ist doch mal was Neues“, heißt es dann. Es kam etwa gleich eine Notenmaterial-Anfrage vom Gewandhaus-Orchester. Das setzt sich jetzt irgendwie durch, die Leute spielen auch schon Clement-Violinkonzerte, so dass ich etwa wöchentlich eine Anfrage nach Noten bekomme. Wir haben 2027 ja das nächste Beethoven-Jubiläum, ich halte die Sachen im Repertoire … Ich bin stets und ständig dabei, diese Dinge auszuweiten. Für meine Studenten, Freunde und befreundete Geiger habe ich das gesamte Violinkammermusikwerk der Zeit eruiert. Da taucht dann plötzlich auch der Erzherzog Rudolph mit zwölf deutschen Tänzen fürs große Orchester auf. Das ist natürlich eine Chance, wenn man das Tripel-Konzert von Beethoven spielt. Mit dem wunderbaren Voríšek-Rondo und den Tänzen von Erzherzog Rudolph ergibt das ein wunderbares Programm. Wenn man einmal den Faden gefunden hat, dann kann man immer weiter daran stricken.
nmz: Was macht „Beethovens Welt“ auch heute noch aktuell?
Goebel: Ich weiß nicht, ob das jetzt besonders aktuell ist oder ob nicht große Kunst immer aktuell bleibt. Das ist einfach Kunst und große Kunst ist immer aktuell – aber: Wir müssen dazu erzogen werden, sie zu erkennen! Wenn wir keinen Kunstunterricht mehr haben, wenn wir keinen Musikunterricht mehr haben, dann werden wir das auch nicht mehr kennenlernen. Und dann werden wir das auch nicht mehr schätzen und dann werden die Menschen, die dessen bedürftig sind, immer weniger.
nmz: Apropos Unterricht: Sind Sie eigentlich Lehrer aus Passion?
Goebel: Ich lasse zumindest die Leute an meinen Entdeckungen teilhaben und tue das sehr gerne. Ich bin natürlich ein Rechthaber – und ein Rechtmacher. In der Öffentlichkeit bin ich Dauerredner, aber ich kann auch meinen Mund halten. In dem Moment, wo mir jemand ein Spürchen überlegen ist. Dann denke ich: „Hör dem mal zu!“ Lernen und Lehren gehören zusammen. Denn ich lehre nicht, wie ich bin oder was ich mir so ausgedacht habe, ich lehre in Strukturen, die nachvollziehbar sind, wo auch Einsichten korrigierbar sind. Ich kann meinen Mund sehr gut halten, wenn es irgendetwas gibt, was ich nicht erarbeitet habe. Die Leute fragen mich zum Beispiel: „Und wie ist das dann mit den Vorschlägen bei Schubert? Also, ich glaube ja so und so …“ Und ich sage dann: „Leute, ich habe noch nie eine Partitur von Schubert in der Hand gehabt, ich kann dazu nichts sagen.“ Ich bin kein Orakel für alles. Aber das, was ich gearbeitet habe, das weiß ich schon sehr gut.
nmz: Ticken Musikschülerinnen und -schüler heute anders als in Ihrer Ausbildungszeit?
Goebel: Es ist heute genauso wie früher. Wir haben in jeder Ausbildungsstufe 97 Prozent Waggons und drei Prozent Lokomotiven. Die drei Prozent Lokomotiven, die an der Jugendmusikschule in Siegen waren (zu meiner Zeit waren es relativ viele Leute, die von Siegen aus Berufsmusiker geworden sind), die trafen dann zumeist in Köln auf drei Prozent aus anderen Städten und Gemeinden und sortierten sich da auch wieder nach 97 Prozent und drei Prozent. Ich habe bei mir im Unterricht gerade drei Lokomotiven. Das können Sie sich gar nicht vorstellen, was das für ein glückliches Gefühl ist, diese jungen Leute attrahiert zu haben. Die bekommen jegliche Förderung, jeden Privatunterricht. Aber die anderen sind halt so, wie sie in meiner Zeit auch waren: Mitläufer, Leute, die sich ihren solistischen Traum dann doch mal abgeschminkt haben, den aber immer noch ein bisschen weiterführen, aber nur hinter der spanischen Wand.
nmz: Wie beurteilen Sie einen Musikbetrieb, der Kunst produziert, aber auch jede Menge Künstliches?
Goebel: Man muss als Musiker selbst Wert auf den Gegentrend legen, also sich von bestimmten Sachen zurückhalten. Wir hatten ja am Anfang der Coronakrise Igor Levit, der sich sehr weit übers Geländer gelehnt hatte. Man möchte dem sagen: „Seien Sie doch nicht so publicitygeil. Machen Sie doch mehr Inhalt!“ Und dann müssen Sie sich Künstlerinnenfotos ansehen. Man kann dann einfach nur sagen: „Nein. Mach ich nicht, kommt nicht in Frage, da kriegen Sie mich nicht hin!“ Oder: „Nein, diese Bewegung würde ich nie mit meiner Geige in der Hand machen. Ich gucke nicht so durch meine Geige durch. Ich halte meine Geige nicht verkehrt herum in die Luft. Nein, ich fahre mir nicht mit dem Bogen durch die Haare.“
nmz: Was steht für Sie persönlich nun an? Sie haben ja intensiv zu 300 Jahren Brandenburgische Konzerte gearbeitet …
Goebel: Eigentlich sollten begleitend zur Tournee der Berliner Barock Solisten CDs und ein Buch erscheinen. Doch diese CDs wird es nicht geben, weil es keine Tourneen geben wird. Es soll aber eine einzeln stehende Buchveröffentlichung kommen. Es sind eine Reihe von Vorträgen vor Ort und im Rundfunk geplant, also noch ganz viel zu diesem Thema. Denn das ist, neben all den anderen Sachen, ja mein Hauptgebiet.
Interview: Claudia Irle-Utsch
CD-Hinweis
„Beethoven’s World“: CD-Zyklus mit Werken von Beethoven, Voríšek, Clement, Eberl u.a. Eingespielt mit den Rundfunkorchestern aus Köln, München, Frankfurt, Saarbrücken u.a., mit Solisten wie Mirijam Contzen, dem Duo Tal / Groethuysen, Herbert Schuch, Bruno Delepelaire und Stephan Koncz. Sony Classical 2020/2021.