„Meine Musik beginnt da, wo ich den Glauben an gebrauchsfertige Werkzeuge und Materialien verloren gebe; sie beginnt da, wo mir nichts anderes übrig bleibt, als diese Verlorenheit anzunehmen.“ Jagoda Szmytkas im Gespräch mit Michael Rebhahn dokumentierte Absage an handwerkliche, erst recht kunstgewerbliche Traditionen musikalischer Kunst (auch an diejenigen der Neuen Musik) hat nicht etwa zu einer kompositorischen Produktion am Rande der Sprachlosigkeit geführt.
Momente bedeutungsschwangerer Zurücknahme wird man in Szmytkas hyperaktiven Ensemblepartituren ebenso selten finden wie den Gedanken einer „Authentizität“ des Materials. Ästhetische Prämissen, die mit dem Naturell der polnischen Komponistin ebenso unvereinbar scheinen wie mit ihrer Auffassung davon, was „Kunst“ sein könnte und wie man sie herstellt oder besser: ermöglicht. Der technische Nihilismus wird bei Szmytka zum Motor einer Produktion, die der allgemeinen Verunsicherung und subjektiven Leere zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit einem Übermaß an Energie entgegensteuert – wie ein Kessel mit Überdruck, der jederzeit explodieren kann.
Zu Beginn ihrer kompositorischen Arbeit hat Szmytka intensiv die unmittelbare Körperlichkeit instrumentaler Klangerzeugung erkundet. Geradezu programmatisch sind Titel und Konzeption eines ihrer frühesten Stücke: Körperwelten für Cello, Tape und Video (2008), dessen klangliche Ereignisse sich Aufzeichnungen des eigenen Blutkreislaufes verdanken. Es folgten in immer neuen Versuchs-anordnungen unermüdliche Konfrontationen von Interpreten-Körper und Ins-trumentenkorpus, die ihre Probanden nicht selten an physische Grenzen und darüber hinaus brachten. Ensemble-Stücke wie „electrified memories of bloody cherries“ (2011) oder „hand saw WeltAll-Stars. generously“ (2011), die kürzlich auf Szmytkas Portrait-CD in der „Edition zeitgenössische Musik“ (Wergo) erschienen sind, beherbergen eine abgründige Virtuosität, bei der die Spieler ihre Arbeitsgeräte bis zur Erschöpfung traktieren, und das klingt dann gelegentlich so, als würden Musiker, Instrumente und Klangoberflächen regelrecht wundgescheuert. Szmytkas geräuschträchtiger instrumentaler Hochleistungssport präsentierte das sich Abarbeiten am Material als Kampf mit den eigenen Fähigkeiten und Ressourcen. Von einer „Music at Risk“ hat Szmytka da gesprochen, man kann davon ausgehen, dass dies nicht nur Aspekte der Interpretation, sondern auch des eigenen Schaffens betrifft. „Musik machen bedeutet nicht, nette akustische Ornamente, angenehme Sounds oder irgendetwas oberflächlich Brillantes herzustellen. Es bedarf der Konfrontation mit dem, was unangenehm ist, manchmal schmerzhaft, wie eine Wunde“, merkte Szmytka hinsichtlich „Inane prattle“ (2013) an, was auf deutsch soviel bedeutet wie „Hirnloses Geschwätz“.
Verstärkten Klänge als Gegenentwurf
Ganz wesentlich für die Physis von Szmytkas Instrumentalklängen ist ihre konsequente Verstärkung. Kaum ein Stück der Komponistin, das nicht per Lautsprecher durch den Raum geschickt würde. Die Motivation ist zweierlei: Einerseits soll eine bessere Wahrnehmung von Details insbesondere der Klangerzeugung selbst und ihrer „Produktionsgeräusche“ gewährleistet werden, gleichzeitig verkörpern die verstärkten Klänge einen Gegenentwurf zu einem domestiziert „akademischen“ Instrumentalklang. Die Ergebnisse können dabei dem Lärm einer Rockperformance sehr nahe kommen, vor allem, wenn eine Gitarre im Spiel ist, die bei Szmytka relativ häufig eine prominente Stelle im Werkganzen einnimmt: „for travellers like angels or vampires“ (2012) schickt die Energie und Intensität, die Szmytkas zerklüftete Ensembletopographien entwickeln können mit konsequenter Rückkopplung und Verzerrung durch die Boxen.
Es mag widersprüchlich anmuten, dass Szmytka im Rahmen der manchmal chaotischen Entfesselung instrumentaler Aktion, deren Abläufe und Details minutiös „vor-schreibt“ (im doppelten Sinne des Wortes), nichts dem Zufall und sehr wenig der potentiellen Impulsivität von Improvisation überlässt. Jede Geste, Klangfarbe, Spieltechnik ist genauestens ausnotiert, und hier zeigt sich vielleicht noch am ehesten, dass Szmytka auch Schülerin von Beat Furrer und Wolfgang Rihm gewesen ist, die neben der physischen Unmittelbarkeit von Klang sicher auch für eine möglichst präzise Vermittlung klanglicher Vorstellungen im Instrumentalapparat stehen. Das endgültige Notat ist aber bei Szmytka nicht selten Ergebnis eines intensiven Kommunikationsprozesses mit den Musikern. In „pores open wide shut“ (2014) wurde dieses Verhältnis radikalisiert und zum Thema des Stücks, waren die Musiker doch aufgefordert, ganz konkrete Angaben zu machen, was sie in der späteren Partitur wiederfinden wollten. Die Grenzen zwischen Komponist und Musiker verschwimmen…
Spiel mit verschiedenen Möglichkeitsformen
Das Spiel mit verschiedenen Möglichkeitsformen künstlerischer und sozialer Identität ist in den letzten Jahren zum Kardinalthema in der Musik von Jagoda Szmytka geworden und deutete sich bereits an in „greetings from a doppelgänger“ (2013), wo die Spieler per Kontaktlautsprecher mit defizitären Klangschatten ihrer selbst konfrontiert wurden. Wenn es einen durchgehenden Faden in Szmytkas Arbeit gibt, dann den Gedanken permanenter Bewegung und Transformation, was schon am äußeren Erscheinungsbild der Komponistin abzulesen ist, das Szmytka seit einiger Zeit als ständige Verwandlung ihrer selbst inszeniert. In den letzten zwei, drei Jahren hat Szmytkas Ästhetik noch einmal eine deutliche Veränderung vollzogen, hin zu einer stark intermedialen Vernetzung der Disziplinen. Dabei nimmt Szmytka – ähnlich wie ihre Kollegin Brigitta Muntendorf – unter verstärkter Einbeziehung des Visuellen aktuelle Formen medialer Wirklichkeit in den Blick. Der Gegenwartsbezug ist für Szmytka essentiell geworden und äußert sich nicht nur darin, auf „social media“ und ihre visuellen Erscheinungen zu verweisen, sondern deren Strategien und Präsentationsformen als Sprachformen direkt ins Komponieren zu holen.
„Klang ist nicht nur eine Angelegenheit des Ohres, sondern betrifft ebenso das Auge, den Körper, das Denken ...“, so die Komponistin. Und so geht es schon lange nicht mehr allein ums Hören in Szmytkas Musik, es geht auch um akustische, visuelle und kommunikative Codes, die mehrdimensionale Inhalte und Ideen transportieren. Begriffe wie „Contextual Music“, „Social composing“, „Audio-Visual-Composition“, „Trans-Media“ und „Cross-Genre“ sind Begriffs-Schubladen einer interdisziplinären Musikkunst am Puls der Zeit, die einem bei Szmytka fast selbstironisch entgegenspringen, sobald man ihre Website öffnet.
Augenzwinkernde Reanimation geläufiger Pop Art-Chiffren
Spätestens hier offenbart sich, dass Szmytkas Wurzeln eher in der Kunstgeschichte, Philosophie und Medientheorie zu suchen sind als in der Geschichte der Neuen Musik und ihrer Materialdiskussionen. Es offenbart sich aber auch, dass selbst die „Selbstreflexion“ ein hintergründiges „Spiel“ ist. Der gebrochene Charakter ihrer Website-Statements manifestiert sich als Sprechblase im Werbejargon, die mit den Klischees und Stereotypen spielt, wie wir Kunst wahrnehmen und darüber reden. Form und Inhalt verkörpern dabei genauso eine augenzwinkernde Reanimation geläufiger Pop Art-Chiffren wie den visuellen Rahmen und Inhalt alltäglicher Screen-Kommunikation. Deren Strategien, Floskeln und Trivialitäten hatte Szmytka bereits in „sky-me, type-me“ für 4 verstärkte Stimmen (2011) auf’s Korn genommen, in „Secret Life of Selfie Heroes“ für Trio, Bassklarinette, Präpariertes Klavier und Video (2014/15) fand das eine Fortsetzung im Thema der Verwischung der Grenzen von Privatsphäre und Öffentlichkeit.
Der information-overload, dem wir alle tagtäglich ausgesetzt sind, spiegelt sich bei Szmytka in jüngster Zeit in szenisch konzipierten Arbeiten, die im Jonglieren mit den kulturellen Daseinsformaten unserer Tage (das kann die massenmedialen Niederungen ebenso betreffen wie die vermeintliche Hochkultur) eine gehörige Portion Drama in sich tragen, auch wenn der Trash- und Parodie-Faktor unmissverständlich hoch ist. „for hands and voices“ (2013) reflektiert als „Oper über die Oper“ beziehungsweise „Theater im Theater“ auf überraschend komödiantische Weise die Mechanismen des eigenen Metiers und macht den Entstehungsprozess des Werkes zum Werk selbst. Die Institution Oper als ein soziales Gefüge wird zur überdrehten Projektionsfläche kommunikativer Prozesse im Kunstbetrieb. Im ebenfalls abendfüllenden „Limbo Lander“ (2014) wird die Ununterscheidbarkeit von „echter“ und „virtueller“ Wirklichkeit endgültig zur mehrdimensional gefakten Abend-Show, die am Beispiel der Entstehung des Stückes im Dialog mit dem „Ensemble interface“ künstlerische Kommunikationsmechanismen thematisiert. Da dieser vor allem als ein „ortloser“ via Internet und Computer stattfand, wurde das Stück auch zu einer Reflexion darüber, wie social media Kommunikationsprozesse filtert, verändert, manipuliert, deformiert.
Spiel – Game
Die Ambivalenzen und Gegensätze, die das Wesen des „Spiels“ konstituieren (Regelwerk–Freiheit, Wirklichkeit–Fake, Durchsetzung eigener Interessen–soziale Interaktion) haben inzwischen grundlegende Bedeutung für Jagoda Szmytkas kompositorische Arbeit gewonnen. Sie werden in „Gameboy“ für Sampler, Stimme und Video (2014) präsentiert in einer virtuosen Solo-Show, die drei auf den ersten Blick unvereinbare Künstler zusammenbringt: Liberace (den Las-Vegas-Show-Pianisten), Sebastian Berweck (den Neue- Musik-Interpreten) und Joseph Beuys.
Konkretes Ergebnis: eine Collage aus Gameboy-Sounds, musikalischem Entertainment, Stimmenfragmenten, echten und gefakten O-Tönen, Beuys-Insignien und Motiven aus Filmen von David Lynch, deren Referenzen in vielschichtige Verbindung treten. Die Aufhebung der Grenzen zwischen Kunst und Leben, Bühne und Realität, wie sie sich sowohl im glitzernden Lifestyle-Kitsch von Liberace wie im ambitionierten Kunstprogramm von Beuys mit aller Macht der Selbststilisierung manifestierte, gelten auch für Jagoda Szmytka selbst und werden im bisher größten Maßstab verhandelt in „LOST“, Szmytkas jüngste Musiktheater-Arbeit, die am 25. September beim Warschauer Herbst uraufgeführt wurde.
Es findet im szenischen Rahmen einer Casting-Show statt, ist aber hervorgegangen aus einem Netzwerk verschiedener ästhetischer Plattformen (darunter eine Website, eine Veranstaltungsreihe und ein eigenes Magazin). Publikum und Akteure werden dort konfrontiert mit einem undurchdringlichen Mischmasch aus Illusion und Realität in der comichaften Überzeichnung einer trashigen Fernseh-Welt auf zwei Ebenen/Bühnen, die simultan Aspekte von Song-Contest, Late-Night-Show und Werbe-Spots vermischen und deren Ereignisse und Motive sich untrennnbar und mehrdimensional aufeinander beziehen, aufeinander reagieren, miteinander verknüpfen. Die Namen der Protagonisten und ihrer multiplen Identitäten lassen tief blicken: Fräulein Millenia Transit, Edit Selfie Smart, BB Blue Touch, Taylor von Ready-to-Wear, Yago Smith, Freddie No-Comment, Sebbi Joseph Screensaver, Lady Blah-Blah, Paul Maria Superstar. Die Trennung von Musikern und Akteuren wird dabei genauso aufgegeben wie zwischen realer Person (des Spielers) und ihrer Rolle im Stück. Es ist dies die bisher komplexeste Melange von
Szmytkas Lieblingsthemen Selbstinszenierung, Identitätsverlust und mehrdimensionaler Wirklichkeitserfahrung.
Play
Szmytkas neuester Spielplatz an der Schnittstelle von Kunst und Leben ist „Play – Gesellschaftsspiele mit Kultur“, eine interdisziplinäre Frankfurter Performance-Plattform, die sie mit Freunden ins Leben rief, um jenseits konventioneller Konzertformate Kunst im öffentlichen Raum immer wieder anders zu erfinden, jeden Monat neu. Der Gedanke des Spiels ist dabei essentiell: eigene Regeln und Strukturen schaffen, ohne vorher genau zu wissen, was hinterher dabei herauskommen wird. Eine Laborsituation also, wo unterschiedlichste Kunstformen und -ideen zusammenkommen und sich dabei mitten ins Leben einklinken. Einzige Regel: keine Ideologie, sondern Vielfalt, Interaktion, Begegnung nicht nur untereinander, sondern mit dem urbanen Raum und seinen Menschen. Ein solches „Spaßprogramm“ ohne Auftragsdruck, weg von der brütenden Isolation an Schreibtisch und Bildschirm, an dem Musiker, Regisseure, Autoren ebenso beteiligt sind wie Architekten und Videokünstler, kann dann in einer Industriehalle ebenso Gestalt annehmen wie in der Straßenbahn, einem ehemaligen Polizeigefängnis, am Mainufer oder im Media Markt. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, hat mal jemand in Frankfurt gesagt. Bei Jagoda Szmytka ließe es sich vielleicht so formulieren: Es gibt kein falsches Leben im richtigen Medium. Oder wie heißt es so schön im letzten Teil von Limbo Lander: „It’s like real life, but better“.