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Vorliebe für die Randständigen: Sergej Newski. Foto: Harald Hoffmann
Vorliebe für die Randständigen: Sergej Newski. Foto: Harald Hoffmann
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Im „Autland“ Neuer Musik

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Der russische Komponist Sergej Newski – ein Grenzgänger zwischen Moskau und Berlin
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Die Beziehungen zwischen Russland und der EU sind allgegenwärtig in jüngster Zeit und die Grenzen zwischen dem, was früher mal „Realität“ genannt wurde und dem, was man immer noch „Propaganda“ nennt, dürften dabei so unklar sein wie noch nie. Das liegt vielleicht auch daran, dass beide früher doch irgendwie besser trennbare Bereiche vor allem als Medienphänomene wirksam werden und das, was wir ungläubig sehen und hören (ob wirklich oder unwirklich) oft selbst wie eine absurde Theaterinszenierung erscheint, die gelegentlich einen Retro-Ausflug in scheinbar überwundene Perioden der Geschichte darstellt. Soldaten besetzen in falschen Uniformen andere Länder, opulente Militärparaden versprühen den stählernen Charme des Kalten Krieges, vordergründig demokratische Systeme werden von anderen vordergründig demokratischen Systemen genötigt und erzählen „dem Volk“, sie wüssten davon nichts … was für ein Theater!

Einer, der es wissen muss, weil er sich in beiden politisch-sozialen Zusammenhängen sowohl im Alltag als auch in der Kunst bewegt – also mit wirklichen Menschen zu tun hat –, ist der russische Komponist Sergej Newski. Der 1972 in Moskau geborene Komponist lebt und arbeitet abwechselnd in Moskau und Berlin, ist als Künstler und Dozent eingebunden in zahlreiche Projekte, die über den Tellerrand zeitgenössischer Komposition weit hinausgehen, seine Werke werden bei den wichtigsten europäischen Fes-tivals ebenso aufgeführt wie am Bolschoi-Theater.

Doppelexistenz

Auf die Frage, ob seine sozio-kulturelle „Doppelexistenz“ Auswirkungen auf die kompositorische Arbeit hat, entgegnet Newski: „Die kulturelle Situation in beiden Ländern ist ja kein statisches Konstrukt, sie verändert sich permanent. In Deutschland wird gerade die scheinbare Sicherheit der nach dem Krieg entstandenen Institutionen durch die Künstler des New German Conceptualism kritisch hinterfragt und gleichzeitig versuchen ebendiese Künstler diese Institutionen vor dem neoliberalen Abbau zu beschützen, denn natürlich wurde der kritische Diskurs auch erst durch die Institutionen möglich, die er kritisiert. In Russland entstanden dagegen in den fetten sieben Jahren zwischen 2005 und 2012 ganz viele neue Räume und Plattformen, in denen die komponierte Neue Musik mit anderen Kunstbereichen wie experimentelles Theater, Soundinstallation, Echtzeitmusik oder Public Art in Berührung kam. Aber je erfolgreicher Neue Musik in Russland wurde, desto mehr stand sie im Widerspruch zur aktuellen politischen Entwicklung. So pendle ich, wenn ich mich zwischen Deutschland und Russland bewege, zwischen zwei sich rapide verändernden Situationen. Ich weiß nicht, wie hoch die direkten Auswirkungen auf mein Werk sind, es hilft mir aber auf jeden Fall, keinen dieser beiden Kontexte zu verabsolutieren.“

Arbeitssituation immer schwieriger

Die Arbeitssituation für progressiv orientierte Künstler mit Beginn der 2. Putin-Ära ist deutlich schwieriger geworden. Im Zuge der Sowjet-Nostalgie des neuen alten Präsidenten könnte man den Eindruck gewinnen, es stehe ein Rückfall in Zeiten kultureller Staatsdoktrin ins Haus. Newski hat an anderer Stelle bereits angemerkt, dass Putin eine Art Anti-Moderne inszeniere, die der breiten Bevölkerung ein Gefühl von Sicherheit vermitteln soll. Im Gespräch beschreibt er die aktuelle Lage so: „Als Putin 2011 in das Präsidentenamt zurückgekehrt ist, war die Kultur- und Wirtschaftselite des Landes nicht begeistert. Also stellte sich Putin eine neue Elite zusammen – aus Bikern, orthodoxen Pfarrern, Verschwörungstheoretikern, Geheimdienstlern und gescheiterten PR-Leuten, von denen einer plötzlich Kultusminister wurde. Obwohl sich Putin nie für Kultur interessiert hat (zum Glück) haben sich die neuen Leute in seiner Administration ab 2012 immer mehr eingemischt und versucht, eine ‚neue nationale Kultur‘ zu kreieren, was natürlich den fragilen Konsens zwischen der Macht und der Kulturelite (‚wir mischen uns nicht in die Politik ein – ihr lasst uns in Ruhe‘) grundlegend zerstört hat. Man erzählte mir, wie ein Moskauer Musikfunktionär der alten Schule, Freund des Putin-treuen Bratschisten Yuri Bashmet und stellvertretender Leiter des Tschaikowski-Konservatoriums, kurz vor der Putin-Wiederwahl sagte: ‚Gleich kommen die Unseren wieder an die Macht, und dann drehen wir Denen (also den radikalen Künstlern) den Sauerstoff ab!’ Ich selbst habe 2011/12 eine große Reihe für Musik und Musiktheater geleitet, die ohne direkte Unterstützung des damaligen Präsidenten Medwedew nicht möglich gewesen wäre. Trotz aller Änderungen in der russischen Kulturpolitik leite ich jedoch immer noch ein großes Projekt für junge Komponisten und Regisseure am staatlichen Meyerhold-Zentrum in Moskau und halte regelmäßig Vorlesungen an der Staatlichen Universität in Petersburg.“

Wie problematisch die Situation für politische Künstler werden kann, ist seit Pussy Riot hinreichend kolportiert, wenig Kenntnis dürfte im Westen allerdings darüber herrschen, mit welcher Intensität und Phantasie man sich gegenwärtig den staatlichen Gleichschaltungsversuchen widersetzt. Newski: „Vor etwa drei Monaten wurde in Nowosibirsk der Opernregisseur Timofej Kulyabin von den Vertretern der Russisch-Orthodoxen Kirche wegen einer angeblich blasphemischen Tannhäuser-Inszenierung vor Gericht gestellt. Das Gericht hat ihn, begleitet von den heftigsten Protesten der Kulturelite, freigesprochen. Trotzdem hat der russische Kultusminister Wladimir Medinsky die Leitung der Oper Nowosibirsk (das zweitgrößte Opernhaus weltweit!) ausgetauscht und die Produktion abgesetzt. Als bei der Verleihung des russischen Nationaltheaterpreises ‚Golden Mask‘ der Kultusminister Medinsky auf die Bühne kam, rief eine junge Frau im Saal ‚Vernite Tannhäuser‘ (‚Bringt den Tannhäuser zurück!‘), woraufhin der Minister während seiner ganzen Rede ausgepfiffen und ausgebuht wurde. Dieser Ruf ‚Bringt den Tannhäuser zurück!‘ wurde dann zum Mem, es begann eine Selfie-Mode, sich mit einem ‚Bringt-den-Tannhäuser-zurück‘-Schild an verschiedenen Orten fotografieren zu lassen, die mit Wagner zu tun haben, begonnen von dem Regisseur selbst auf der Wartburg.“

Gegen jede Vereinnahmung immun

Dass Newskis eigene Musik trotz steigenden Bekanntheitsgrades und renommierter Auszeichnungen gegen jede Vereinnahmung durch das politische Establishment immun ist, garantiert schon ihr fragmentarisches Wesen: „Ich sehe mich doch eher als Mitteleuropäer, der eine Syntax zu entwickeln versucht, die das verwendete Material und sich selbst permanent in Frage stellt. Da bin ich schon der Schüler meines Lehrers Friedrich Goldmann, der uns beigebracht hat, mit Hierarchien, mit Perspektivwechseln zu spielen und heterogene Materialien zu einer Art neu erfundenen Organik zu verbinden.“ Ensemblestücke wie „Blindenalphabet“ (2007) und „Arbeitsfläche“ (2011) sind geprägt von einem zaghaften Herantasten ans Klangliche oder verbleiben gänzlich in einem Zustand zerbrechlicher Unsicherheit. Die taktile Erforschung der Instrumentenoberfläche kann dabei zum integralen Bestandteil des Kompositionsprozesses werden, konstitutiv auch im Hinblick auf die gezielte Deformation des „natürlichen“ Klanges. So schrieb Newski sein 3. Streichquartett „mit einer Violine in der Hand“, um „aus dem Katalog dieser Tast- und Klangerfahrungen“ die Strukturen des Stücks zu entwickeln.

Newskis Idee, ambivalente Zustände von Auflösung und Gestaltbildung zu kreieren, spiegelt sich auch in seiner Auffassung der menschlichen Stimme wider, die in Newskis Musik von zentraler Bedeutung ist und die mal mit, mal ohne Text allen erdenklichen Ausprägungen menschlicher Affekte auf der Spur ist. Das kann mit phonetischer Urgewalt am Rande des Wahnsinns passieren wie in „Pesnya“ (1999), ein wie erstickter, jegliche Normalität verlassender Monolog für Stimme solo, der keine Worte mehr für einen Zustand totaler (psychischer) Instabilität findet, oder als gesprochener Text, der sich wie in „Alles“ (2008) oder „Und dass der Tod nicht fernbleibt“ (2005) in oft loopartiger Vernetzung mit der Instrumentalebene den Befindlichkeiten einer ausgesucht existentiellen Poesie widmet.

Newskis Vokalstücke sind eine Fundgrube an bemerkenswerten, handverlesen unkonventionellen Textvorlagen, die mit literarischem Mainstream so rein gar nichts zu tun haben. „Rules of love“ für Sopran, tiefen Alt und fünf Instrumentalisten (2012/13) ist eine Komposition über „anonyme Liebesgeschichten aus dem Russland der 80er-Jahre“, wie sie in der Textsammlung „Handgeschriebene Mädchenerzählung“ von Sergey Borisov zu finden sind. Es sind Texte, die in wunderbar zwingender Lakonie und gnadenloser Nicht-Gekünsteltheit vom Einanderverlieren oder nie wirklich Zueinanderkommen erzählen. Newski hat dafür ein breites Spektrum an Tonfällen, Klangfarben und Techniken zwischen Groteske und Kontemplation, Sciarrino-hafter Flüchtigkeit und atemloser Motorik, theatralischer Sprunghaftigkeit, regungslos brütender Rezitation und weltfernen Vokalisen gefunden.

Affinität zum Ausdrucksmittel Stimme

Es erscheint beinahe folgerichtig, dass Newskis Affinität zu den Ausdrucksmöglichkeiten der Stimme in den letzten Jahren verstärkt zu größeren Musiktheater-Projekten geführt hat. Als A-cappella-Komposition für sechs Solisten und gemischten Kammerchor zog „Autland“ (2008/09) als Collage über Gedichte von Gerd-Peter Eigner, Unica Zürn, Katja Rohde und Texten autistischer Jugendlicher alle Register vokaler Artikulation. Der ständige Wechsel von Lautartikulation, gesprochenem Wort und Gesang ist typisch für Newskis flexible Auffassung von Vokalmusik und kreist in „Autland“ programmatisch um das Problem der Sprachfindung im Spannungsfeld von Kommunikationszwang und Kommunikationsunfähigkeit. So erwächst zu Beginn des Stückes alles Klangliche mühsam aus angestrengten Atemgeräuschen und phonetischen Stammeleien, bevor die „Vertonung“ von Eigners Gedicht „Sonntag der Irren und Pfleger im Winter“ die surreale Welt einer geschlossenen Psychiatrie als Doppelkanon mit Chor-Zwischenspielen in vokalpolyphoner Unwirklichkeit erstrahlen lässt.

Erschien „Autland“ in Anlehnung an vokale Praktiken des 16. Jahrhunderts als eine hybride Mischung aus Aspekten Alter und Neuer Musik, horchte „Robert S.“ (2010/11) für fünf Solisten, Kammerensemble und Zuspielungen als „Kollektiv-Komposition“ (mit Karola Obermüller, Annette Schlünz, Peter Gilbert und Georg Katzer) in fünf „Akten“ den Seelen-Abgründen Robert Schumanns hinein. Bisheriger Höhepunkt von Newskis Musiktheater: die Kammeroper „Franziskus“ (2008–12) nach dem Stück „Heiliger Franz“ von Claudius Lünstedt, uraufgeführt 2012 am Moskauer Bolschoi-Theater! Die nächsten Opern stehen in den Startlöchern: Momentan probt Newski am Stanislawski Elektrotheater in Moskau für „Sverlien“ (UA 29. Juni), ein Gemeinschaftsprojekt mit Boris Filanovsky, Dmitri Kourliandski, Vladimir Rannev, Alexey Sysoev und Alexei Sioumak, das insgesamt fünf abendfüllende Werke enthalten wird, basierend auf einem Text des Avantgarde-Regisseurs Boris Yukhananov, der auch die Inszenierung übernehmen wird. Ein weiteres aktuelles Projekt ist die Kammeroper „Pazifik Exil/die Party“ nach dem Roman von Michael Lentz für sechs Stimmen und Elektronik. Dort geht es in Zusammenarbeit mit dem Techno-Musiker Paul Frick um die Lebenssituation deutscher Schriftstellerikonen im amerikanischen Exil; Uraufführung im Frühjahr 2016 in Stuttgart.

Unmittelbares Ereignis und Reflexion

„Ich wollte keine Ausdrucksmusik schreiben, sondern eine Syntax entwickeln, die den Zuhörer berührt und ihn zugleich auf Distanz hält“, umschrieb Newski einmal die ästhetische Strategie von „Autland“ und genau diese Gleichzeitigkeit von unmittelbarem Ereignis und kritischer Reflexion ist es, die die Faszination seiner Musik insgesamt ausmacht. Ihre latente politische Sprengkraft spricht sich schon darin aus, dass ihre Protagonisten (ihre Stimmen!) mit Vorliebe die Randständigen, Unangepassten und Nicht-Funktionierenden sind, die besonders treffende Gesellschafts-Befunde vermitteln können, eben weil sie nicht dazugehören. Künstler und vermeintlich Gestörte sind in dieser Hinsicht ohnehin aus gleichem Holz geschnitzt: Sie erfinden eigene Regeln und Gesetzmäßigkeiten … im besten Fall jenseits der Gesetze des Marktes und der Mittelmäßigkeit. Ob das in Moskau oder Berlin passiert, ist eigentlich irrelevant …

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