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Im Übergang ankommen – ein spirituelles Roadmovie aus Istanbul

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Mark Andre sammelt in Istanbul Klänge und Intuitionen für sein neues Orchesterstück „üg“
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Im Rahmen des „into…“-Projekts von Ensemble Modern, Siemens Arts Program und Goethe-Institut, bei dem sechzehn Komponisten nach Istanbul, Dubai, Johannesburg und ins Pearl River Delta eingeladen werden, hielt Mark Andre sich im Juli in Istanbul auf, wo er für sein neuestes Werk recherchierte. Eine Reportage.

Betritt man den Topkapi Palast durch das Kaiserliche Tor, dann liegt linker Hand die Irenenkirche, die für Touristen nicht zugänglich ist. In der Hagia Eirene herrscht daher vollkommene Ruhe, nur selten unterbrochen vom Flügelschlag einer Taube, die unter dem Dach der aus dem 8. Jahrhundert stammenden „Kirche zum Himmlischen Frieden“ ihr Domizil aufgeschlagen hat. Mark Andre steht in der Mitte des riesigen, völlig schmucklosen Gewölbes und schaut nach Osten, in Richtung des Chores, wo durch drei große Fenster das Mittagslicht hereinströmt. Um ihn herum ein Aufbau von vier Mikrophonen und einem Lautsprecher, durch den ein dreißig Sekunden dauerndes Signal in den Raum geschickt wird. Ein aufsteigender Sinuston, zum Schluss ein Signal, ein Aufnahmegerät zeichnet den Nachhall auf. Es ist eine Art akustisches Foto entstanden.

Fotos dieser Art schießen der Komponist Andre und der Musikinformatiker und Toningenieur Joachim Haas vom Experimentalstudio des SWR auch in der Blauen Moschee, in der ehemaligen Pantokratorkirche, heute Zeyrek Moschee, der Kariye Kirche und in der Synagoge Neve Shalom. Hofft ein Komponist, der ausschließlich spirituelle Orte vermisst, darauf, dass in derart erzeugtem Material bereits Transzendenz steckt? Fakt ist, Mark Andres Werke sind Musik von hoher Spiritualität, die er durchaus existenziell und metaphysisch verstanden wissen will.

Im Rahmen des „into…“-Projekts von Ensemble Modern, Siemens Arts Program und Goethe-Institut, bei dem sechzehn Komponisten nach Istanbul, Dubai, Johannesburg und ins Pearl River Delta eingeladen werden, hielt Mark Andre sich im Juli in Istanbul auf, wo er für sein neuestes Werk recherchierte. „Intuitionen sammeln“, sagt er selbst dazu. Da Andre als Kind schon einmal in Istanbul war, und der goldene Glanz der byzantinischen Mosaiken Christi und Mariä in der Hagia Sophia einen unauslöschlichen Eindruck auf ihn gemacht hatte, entschied er sich ohne zu zögern für Istanbul. „Als ich von Roland Diry, dem Geschäftsführer des Ensemble Modern, wegen des Projektes kontaktiert wurde“, sagt Andre, „habe ich mich sehr gefreut, denn es ist für mich immer etwas Besonderes, für die Solisten des Ensemble Modern komponieren zu dürfen. Auch war mir sofort klar, dass meine Reise mich nach Istanbul führen würde, als eine Art Pilgerreise.“

Hier in dieser Stadt an der Grenze zwischen Asien und Europa, zwischen Orient und Okzident, wollte Andre den für sein Werk so bedeutsamen Begriff des Übergangs musikalisch untersuchen und reflektieren. Am ehemaligen Ostrom, Konstantinopel, Byzanz und heutigen Istanbul interessieren ihn in erster Linie die Übergänge zwischen Religionen und Kulturen.

Wichtige Teile seines Materials für „üg“ (der Werktitel steht für Übergang) destillierte der Komponist aus der geistig-spirituellen Atmosphäre  dieser Jahrtausend-Metropole. „Wie kann ich die Zwischenräume, die latenten Räume musikalisch darstellen?“, lautete die selbstgestellte Aufgabe.

Mark Andre ist kein Spaziergänger oder Kaffeehausbesucher. Er lässt sich nicht verführen vom pulsierenden Istanbuler Leben, sondern erforscht Istanbul ganz zielgerichtet. So besucht er etwa den Rabbiner Rab Yeuda Adoni der Neve Shalom Synagoge. Passkontrolle am Eingang: Seit dem Bombenanschlag durch die Al-Qaida am 15. November 2003, bei dem zahlreiche Menschen starben, kann die Synagoge nur noch durch einen Nebeneingang betreten werden. Mehrere Stahltüren suggerieren Sicherheit und sind doch nur Symbol der Angst und der Abschottung. Gibt es die gesuchten Übergänge, die Gemeinsamkeiten der Kulturen und Religionen wirklich? Sich selbst und seine Musik bezeichnet der Lachenmann-Schüler Mark Andre als „total apolitisch“. „Ich interessiere mich dafür, was die drei großen monotheistischen Religionen verbindet.“ Andres Reise ins Innere, seine Suche nach existenziellen Lebensspuren wird jedoch in einer Stadt wie Istanbul beinahe von selbst zum Politikum. Seine religiösen Überzeugungen wie auch sein kompositorisches Konzept – in beiden spielen Ökumene und Diakonie eine wichtige Rolle – besitzen nicht nur in Istanbul Sprengkraft.

Mit Rabbiner Rab Yeuda Adoni unterhält er sich über liturgische Musik und über die Beziehungen zwischen Moslems, Christen und Juden in der Stadt. Ein Besuch bei Pater Peder Dositheos Anagnostopulos, Pressesprecher des griechisch-orthodoxen Patriarchen in Istanbul, in dessen Büro im Patriarchat wird zu einer Vorlesung über die drei Gestalten Christi: als Mensch, als Sohn Gottes und als allmächtiger Gott.

Fünf Minuten vom Taksim-Platz entfernt, im europäischen Viertel, liegt die Villa Zürich. Im fünften Stock dieses Hotels hat Andre seine improvisierte Istanbuler Komponistenwerkstatt eingerichtet: Laptop, Koran, Bibel, diverse Blätter mit Texten, Zeichnungen und Partituren. Ins Auge sticht eine Skizze mit der Aufstellung des Ensembles auf der Bühne. Geige, Cello 1 und 2, Bratsche, Oboe, Flöte, Kontrabass, Kontrafagott und Bassklarinette sind frontal vor dem Publikum platziert. Im Kreis um die Zuhörer stellt Andre fünf Musiker: Schlagzeug 1 und 2, Posaune, Horn und Trompete sowie acht Lautsprecher. Wer den französischen Komponisten kennt, weiß, dass diese Aufstellung nicht dazu da ist, das Publikum mit Rundumklang zu überwältigen, sondern um die leisen Dinge darzustellen: Es geht um Präsenz, Intimität und Differenziertheit – ein Markenzeichen von Mark Andres Klangrede. 

Der Pilger und Klangforscher bat Menschen, ihre Namen in ihrer jeweiligen Muttersprache, auf Türkisch, Deutsch, Arabisch und Hebräisch zu flüstern, alles soll so nah und vertraut wie möglich wirken. Er schuf eine Typologie der geflüsterten Vornamen: gesunde Menschen, kranke Menschen aus Kliniken in Freiburg im Breisgau und Istanbul, Deutsche, Türken, Muslime, Juden, Christen.

Ein Imam flüstert Suren aus dem Koran auf Arabisch, wie ein Klangschatten flüstert Michael M. Kasper vom Ensemble Modern vier Suren aus dem Koran in der Übersetzung von Friedrich Rückert. Kasper spricht mehrere Texte aus dem neuen Testament, Fragmente aus dem Matthäus-Evangelium, darunter die Seligsprechungen und aus dem alten Testament den Exodus. Ein Rabbiner flüstert das Alphabet auf Hebräisch.

Religiöse Themen wie Auferstehung, Heilung, Vergebung der Sünden, die Identitätsänderung der Jünger durchdringen das Material und die Struktur der Komposition völlig und sind letztlich nicht mehr davon zu trennen. Was die Gestalt der Klangtextur im Stück angeht, so ist sie Reflexion der in der Freiburger Tumorbiologieklinik aufgenommenen Stimmen von Patienten. Einige Sprecher hatten glatte Stimmen, andere eher welche mit körniger oder perforierter Gestalt. Dies regte Andre zu Bildung diverser Klangtypen von geräuschhafter Gestalt an: körnig, granuliert, fragmentiert, glatt und so weiter. „Zu Beginn des Stückes wird sogar das Geräusch des Wassers am Goldenen Horn ertönen“, verrät Andre, „doch nichts wird verwendet, wie es erscheint, alles wird verwandelt.“ Die Übergänge stiften den Sinn, nicht die konkreten Klänge. „Es ist immer mein Ziel gewesen, nicht mit oder für die Elektronik zu arbeiten. Mir geht es um die Suche nach Räumen, die weder akustisch noch elektronisch sind.“

Hektik, Lautstärke, große Entfernungen, eine fremde Sprache – Istanbul erscheint dem Komponisten Andre als faszinierender polyphoner Klangkörper, dem er sich aussetzt, vor dem er sich aber auch schützen muss. Gegen Istanbul ist Andres Wohnort, der Berliner Stadtteil Friedrichshain, geradezu ein Idyll. ‚Künstlerisches Heimweh‘ hat er dennoch nicht bekommen in den Wochen seines Aufenthaltes. Er scheint sich in den spirituellen Welten der Bosporusstadt zuhause zu fühlen.

Ist er angekommen? Was hat ihn in der Zeit seines Aufenthaltes bewegt? „Der Eindruck von Istanbul, den ich aus meiner Kindheit hatte, war sehr stark. Und er hat sich bei diesem erneuten Besuch bestätigt. Es war schön, zu spüren, dass Religion mit Frieden, mit Gefühl, Verständnis und Toleranz zu tun hat und nicht mit Politik und Gewalt. Wichtig waren mir auch die Begegnungen mit den Menschen im Krankenhaus hier in Istanbul.“

Geändert hat sich Andres ästhetische Wahrnehmung der türkischen Musikszene. Er bringt nicht nur etliche Ethno-Elektronik-CDs mit Musik türkischer Komponisten zurück, sondern hat sich auch am Konservatorium der Mimar Sinan Universität für Schöne Künste mit den beiden Komponisten Koray Sazli und Dilara Özdemir zu einem Werkstattgespräch getroffen. Und siehe da, trotz ganz anderer musikalischer Sozialisation und Ausbildung, traf man sich wieder auf bekanntem Terrain. Özdemir hatte bei Marco Stroppa in Stuttgart studiert und auch am IRCAM in Paris gearbeitet. Mark Andre studierte bei Helmut Lachenmann in Stuttgart und arbeitete am Freiburger Experimentalstudio des SWR. Und so begegnen sich dieses Mal am Goldenen Horn nicht Orient und Okzident, sondern die verschiedenen Ästhetiken von IRCAM und dem Freiburger Experimentalstudio.

Zwischen diesen ästhetischen Richtungen gibt es zwar keine Glaubenskriege, aber sie sind in ihren Überzeugungen oft so haarspalterisch wie Theologen. Wäre da nicht manches Mal auch etwas mehr Ökumene angesagt? Oder liegt der Reiz nicht gerade im feinen Unterschied? Weder noch, ist man versucht zu sagen, wenn man über Mark Andres Istanbulreise nachdenkt – der Reiz liegt ganz einfach zwischen beidem, im Übergang.

Aufführungen mit dem Ensemble Modern: 11. Oktober 2008, Frankfurt, Alte Oper, 14. Oktober 2008, Berlin, Konzerthaus, 13. Juni 2009, Wien, Konzerthaus

 

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