Der Ort verbildlicht die Position dieser Musik: Oben braust der Düsseldorfer Feierabendverkehr in Richtung Theodor-Heuss-Brücke; unter der Rampe findet das erste Konzert „Frauen im Schatten“ statt. An bulligem Türsteher und verranztem Toilettenbereich vorbei gelangt man in den Golzheim Club. Der bescheidene Raum verfügt über Bar und Dancefloor inmitten von Sichtbeton, Stahlträgern, Leitungen. Üblicherweise wird hier zu lautstarken Technobeats abgetanzt. Heute jedoch lauschen knapp dreißig Menschen auf harten Holzhockern – sowie rund achtzig im Livestream – Uraufführungen neuer Musik.
Die Initiative verdankt sich Cecilia Castagneto. Die aus Buenos Aires stammende Dirigentin hatte in ihrer Heimatstadt Orchesterleitung, Klavier und Violine studiert und machte 2012 ihr Dirigierexamen bei Rüdiger Bohn an der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf. Sie arbeitete als Assistentin von Peter Rundel und Arturo Tamayo. Gegenwärtig gastiert sie bei verschiedenen Orchestern und Opernhäusern in Deutschland und Argentinien. Neben Repertoirewerken widmet sie sich neuer Musik, zumal von Komponistinnen, denn: „Frauen kommen im Musikleben immer noch kaum vor. Sie erhalten weniger Chancen und sind einem erhöhten Erwartungsdruck ausgesetzt. Im Zuge der Pandemie hatte ich endlich Zeit, dieses neue Projekt zu entwickeln: Anträge zu stellen, das Ensemble zusammenzustellen und fünf jüngere Komponistinnen aus verschiedenen Teilen der Welt einzuladen, neue Stücke zu schreiben.“
Aus dem Schatten treten
Eröffnet wurde das erste Konzert „Frauen im Schatten“ mit einer Videominiatur über die Pianistin und Komponistin Fanny Hensel, die ihrem Bruder Felix Mendelssohn Bartholdy schreibt, endlich selbst Lieder veröffentlichen zu wollen, um ein bisschen aus dem Schatten des berühmten Komponisten herauszutreten. Auch den folgenden, hoch konzentrierten Aufführungen durch das ausgezeichnete fünfköpfige Projektensemble gingen kurze Videos voraus, in denen die fünf Komponistinnen als Künstlerinnen und Frauen mit jeweils individuellen Persönlichkeiten, Herkünften, Sprachen und Lebenssituationen porträtiert wurden.
Die Argentinierin Cecilia Pereyra erklärte, Komponieren, Unterrichten und Muttersein seien für sie untrennbar, man müsse nur bereit sein, sich immer zu hören. In „En este instante“ (In diesem Augenblick) lässt sie kurze Ostinatoelemene kreisen, sich verhaken, auseinanderlaufen und plötzlich stolpern, so dass ständig neue Konstellationen entstehen – wie im wirklichen Leben. Die Südkoreanerin Mijin Oh kombiniert in „Mein Zuhause“ die Instrumente mit klingenden Alltagsobjekten. Der Riss eines ruckartig abgezogenen Klebebands setzt sich in perforierten Bogenstrichen fort. Und das mit Alufolie präparierte Marimbaphon knistert und rauscht wie Wische längs der Saiten. Hinzu kommen schnatternde Glissandi, tickende Wechselnoten sowie Anklänge an Kinderlieder und Beethovens fünfte Symphonie – was eben so alles das „Zuhause“ erfüllt.
Die Japanerin Akiko Yamane sieht man im Video in Natur, Großstadt und riesigem Gaming-Center zwischen flimmernden Spielautomaten. Ihre Auskunft, alle Eindrücke durch ihren Körper gehen und sich davon bewegen zu lassen, deckt sich mit ihrer Ästhetik der Gleichzeitigkeit heterogener Schichten in „Kitsch mandala kawaii“. Während die Klarinette Läufe zu üben scheint, tönt die Flöte wie im Spielmannszug, kratzt die Geige meckernd mit dem Bogen, tändelt das Violoncello tänzerische Battuti auf die Saiten und wird das Marimbaphon behutsam betupft. Die Gesten beginnen zu wandern und kehren wieder zu ihren Ausgangspunkten zurück. Vielleicht hilft eine solche Vielstimmigkeit wirklich, „zu akzeptieren, wie wir Menschen sind“.
Klang- und Weltbezüge
Die „Microstories“ der Russin Dariya Maminova beginnen mit einem krachenden Schlag, dem lange Stille folgt. Die Gegensätze kehren anschließend in kurze Fragmente verwandelt wieder, als zarte Tupfer, herabfallender Löffel, fortgesetzte Repetitionen oder untergründig zugespieltes Schleifen und Sägen. Am Ende zeigt das Ensemble auf Smartphones ein Animée-Äffchen, das sich die Ohren zuhält. Was ist die Botschaft? Geht es nicht gerade ums Hören? Werden Frauen zu wenig gehört? Das Video über Tamara Miller zeigt die Chilenin am Kölner Rheinufer und im Studio vor Mikrophonen, wie sie mit Steinen Klänge aufnimmt, die sich dann auch in ihrer Komposition finden.
Trotz vieler Unterschiede scheint alle Komponistinnen dieselbe Sensibilität für ihre jeweilige Umgebung zu verbinden sowie ein gleichzeitig weniger ausgeprägtes konzeptuelles und konstruktives Denken. Spezifisch weiblich ist das jedoch wohl eher nicht, da Fokussierungen auf Klang und Weltbezüge in der neuen Musik gegenwärtig insgesamt strukturelles Material- und Formdenken überwiegen. Nächstes Jahr möchte Cecilia Castagneto erneut einige hierzulande noch unbelichtete Komponistinnen aus dem Schatten holen. Nur zu: mehr Licht!