Als sie jung waren, hätten sie von Ensembles gehört, die ihr 40-jähriges Jubiläum feierten. Das sei ihnen damals „vorgestrig“ vorgekommen, so Astrid Schmeling vom Ensemble L’art pour l’art. Im Oktober 1983 hat das Ensemble sein erstes Konzert gegeben – heute liegen 40 bedeutende Jahre für die neue Musik hinter dem Ensemble. Vor drei Jahren starb Matthias Kaul: Mitglied der ersten Stunde, Komponist und Perkussionist. Der Trauerfall fiel mitten in das wegen der Corona-Pandemie stillgelegte Kulturleben. Ist der Zeitpunkt gekommen, mit dem Ensemble eine Ära zu beenden? Mit Nichten: Fragt man Schmeling, was das Ensemble L’art pour l’art aktuell um-treibt, bekommt man eine inspirierte und bestimmte Antwort: „Aufbruchsstimmung“.
Internationale Korrespondenten der Gegenwart
Im Zuge ihrer Abschlussprüfungen kommen 1983 die Flötistin Astrid Schmeling, der Gitarrist Michael Schröder und der Schlagwerker Matthias Kaul zusammen. Schnell zeigt sich, so Schmeling, dass die drei, obwohl oder weil aus „musikalisch ganz unterschiedlichen Himmelsrichtungen“ kommend, inspirierend harmonieren. Schwierigkeiten in der Fortsetzung ihrer Arbeit werden zum kreativen Katalysator: Bereits am Anfang der Reise haben sie das Repertoire für die Besetzung auserzählt – für ein Fortbestehen sind neue Arbeitswege erforderlich. Wiederholt erweitert sich das Kern-Trio um (regelmäßige) Gäste an anderen Instrumenten.
Nach 10 Jahren kristallisiert sich ein kleines, weiterhin erweiterbares Stamm-Ensemble aus sechs Musiker*innen heraus. Auch wenn das Ensemble einen eigenen Klang entwickelt, hat die besondere Arbeitsweise von L’art pour l’art den größten Einfluss auf ihre Ästhetik, Besetzung und Stil: Ihr Schaffen wird von längeren Perioden der Auseinandersetzung mit einzelnen Komponist*innen strukturiert, die jeweils zu Porträt-Konzerten, CD-Einspielungen, Uraufführungen, (internationalen) Hörfunkproduktionen und immer auch zur Weiterentwicklung des Ensembles selbst führen.
Auf diese Weise kreuzen sich die Wege des Ensembles mit Vinko Globokar, Hans Werner Henze, Mauricio Kagel, Jo Kondo, Michael Maierhof, Helmut Oehring, Younghi Pagh-Paan, Frederic Rzewski, Manos Tsangaris, Isang Yun und Walter Zimmermann. Neben der Konzerttätigkeit, die das Kollektiv in verschiedene Länder Europas, Asiens und Nordamerikas führt, setzt das Ensemble ganz eigene Impulse in der Nachwuchsarbeit und dem Konzertdesign bezüglich der Gegenwartsmusik.
Ein erheblicher Teil dieser Überlegungen und einige Konzertprojekte finden dabei weitab der Metropolen im niedersächsischen Winsen statt. Hierhin verlegt das Ensemble seinen Sitz, als die Hamburger Förderpolitik dem Ensemble die Existenzgrundlage zu nehmen droht. Denn bei alledem ist das Ensemble L’art pour l’art Teil der freien Szene – nicht nur im Sinne der Trägerschaft. Auch ihre künstlerische Ausrichtung erzählt von freiheitlicher Wandelbarkeit. Das führt im Laufe der Jahre dazu, dass das Ensemble wiederholt aus dem traditionellen Konzertrahmen ausbricht und in die Bereiche der Inszenierung beziehungsweise des Musiktheaters vordringt. Die aktuelle Schaffensphase ist aus diesen Entwicklungen hervorgegangen: Die von Schmeling innerhalb des Ensembles beobachtete Aufbruchsstimmung begründet sie auch mit einem jüngsten Vorstoß in das audiovisuelle Interpretieren von Klang und Musik.
Wie diese aussehen kann, zeigt sich zum Beispiel im Projekt „Resonanzen – Ein Ereignis“ aus dem Sommer 2020. Einen Monat vor Matthias Kauls Tod präsentierte das wie alle Musiker*innen im Lockdown befindliche Ensemble diesen Konzertfilm. Die audiovisuelle Besonderheit beschließt den Film: Im von und für das Ensemble ausgebauten „Alten Forsthaus Habichtshorst“ improvisieren fünf Musiker*innen des Ensembles und Karsten Wiesel. Wiesels Instrument: die Kamera. Die Zusammenarbeit hält bis heute an: „Im Moment ist ‚3 Realities 2‘ in Entstehung. Hier begegnen sich ein*e Komponist*in und Karsten Wiesel, um strukturell von vornherein die Genres zu verzahnen.“ Auch das mit dem JukeBoxx NewMusic Award ausgezeichnete „Notturno für Gewächshaus und abwesendes Ensemble“ entstammt dieser Zusammenarbeit.
Die Produkte zu verorten ist schwierig. Die so entstehenden Kunstwerke sind weder Musikfilme noch Filmmusiken. Recht passen möchte keiner der Begriffe. Das stellt Schmeling und das Ensemble immer wieder vor Schwierigkeiten, wenn es um die für die experimentelle Gegenwartsmusik lebenswichtigen Förderungen geht: Der Markt brauche Schubladen, so Schmeling, auch seien die Förderungen oft an dedizierte Anforderungen geknüpft: Diese werden nicht selten in Rastern gedacht, durch die schwer greifbare Kunstprojekte durchfallen. In der Bürokratie haben radikal frei gedachte Formate also nicht den leichtesten Stand.
Auch in ihrer Wahlheimat Winsen in Niedersachsen treffe die Kunst von Ensemble L’art pour l’art, obwohl es sich um einen sehr lebendigen kleinen Ort handle, nicht nur auf Verständnis. Das Ensemble hat auch hier Formate gefunden, um mit Menschen, die zeitgenössischen Kompositionen bislang ferngeblieben sind, zum Austausch einzuladen: In der Reihe „Zuhören in Winsen“ lädt das Ensemble im Vorprogramm der Musik Nicht-Musiker*innen ein, die in ihrem Berufsalltag erheblich auf ihre Sinneseindrücke angewiesen sind. Bisheriges Highlight für Schmeling war der Besuch eines „Keks-Akustikers“, also eines Sounddesigners, der mit seinem Team im Studio nach dem Keks mit dem charmantesten Knacks sucht.
Das Ensemble öffnet also nicht nur mit seiner Musik, sondern auch mit den Angeboten drumherum die Ohren seiner Mitmenschen. Auch dem kompositorischen Nachwuchs hat sich das Ensemble lange Zeit – nach dem Corona-Knick ist die Nachfrage leider nicht mehr tragend – verpflichtet: „Die Kompositionsklasse ist seit vielen Jahren eins der zentralen Projekte des Ensembles“, so Schmeling. Obwohl der Corona-Knick auch hier zu spüren ist: Das Projekt pausiert derzeit. Eine Einspielung der entstandenen Kompositionen hat unter anderem den Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik erhalten.
Auch seitens des Ensembles ist Offenheit bei der Arbeit mit jungen Komponist*innen gefragt: Oft mache der Nachwuchs „neue Entdeckungen“, die den Musiker*innen aus 40 Jahren Erfahrung durchaus bekannt vorkommen. Trotzdem dürfe man die Perspektive der nächsten Generationen nicht belächeln. Schmeling glaubt nicht an „linearen Fortschritt“ – für sie ist klar, dass sich die menschliche Entwicklung in einer Art Kreis bewegt. Wenn wir an einen scheinbar „gleichen Punkt“ gelangen, ist die Kunst, die feinen neuen Perspektiven darin zu entdecken. Für die Zukunft des Ensembles wünscht sich die aufbruchsgestimmte Schmeling hauptsächlich eines: „In Korrespondenz mit der Gegenwart zu bleiben.“
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