Schon nach wenigen Sätzen war es Rodion Schtschedrin gelungen, den alten Eisernen Vorhang mit seinen wenigen stereotypen Schubladen zu lüften. Es sei nur ein kleines Guckloch, durch das wir im Westen auf seine Heimat schauen würden, sagt er. Im Verhältnis zu den vielen Erfahrungen und Erlebnissen seines langen Lebens nehme die Thematik des Sowjetregimes trotz der gravierenden Beschränkungen nicht den entscheidenden Raum ein, betont er. Am 16. Dezember wird Rodion Schtschedrin 80 Jahre alt. Weltweit von den größten Musikern, Orchestern und Dirigenten interpretiert, hochdekoriert und mit unzähligen Ehrungen bedacht, gehört der in Moskau und München lebende Schtschedrin heute zweifelsohne zu den bedeutendsten Komponisten unserer Zeit.
Das Musikleben in der Sowjetunion spielte sich für ihn weit über den alltäglichen Klippen der politischen Unwegsamkeit ab, intensiv, lebendig und von höchster Qualität. Wenn seine Werke in Moskau oder Leningrad aufgeführt wurden, dann saßen in der Stalin-Ära im Orchester all die Größen, die später in den Westen emigriert zu Legenden werden sollten: „An jedem Pult saß ein Oistrach“. Der kammermusikalischen Tradition folgend, entstanden Werke dieses Genres für bestimmte Musiker, so für Maxim Vengerov, Yuri Baschmet oder Mstislaw Rostropowitsch. Eine besondere Beziehung pflegte er zudem zum Ballett: Die legendäre Primaballerina des Bolschoi-Theaters, Maija Plissezkaja, wurde seine Frau.
Dass nach der Grenzöffnung so viele Komponisten unter sowjetischer Verfolgung gelitten haben wollen, ärgert ihn. „Wo sind denn all die genialen Werke, die damals nicht gespielt werden durften“, fragt er, wo doch jetzt alle Aufführungsmöglichkeiten zur Verfügung stünden. Die Antwort müssen wir ihm schuldig bleiben.
Studiert hatte er in Moskau, bei Jurij Schaporin Komposition und bei Jakow Flier Klavier. Schaporin sei für ihn als Mensch sehr wichtig gewesen, mit all seinen Freundschaften zu Persönlichkeiten des Kulturlebens, vor allem unter den Wortkünstlern, von Alexander Blok bis Maxim Gorki. Seine technischen Kenntnisse in der Komposition verdanke er jedoch Schostakowitsch. Schtschedrins Vater war in der Kriegszeit Sekretär Schostakowitschs gewesen, daher waren die Familien gut befreundet, seit Rodion Schtschedrin neun Jahre alt war. Auf Schostakowitschs Bitte hin, die von ihm gegründete russische Sektion des Sowjetischen Komponistenverbandes zu leiten, war er schließlich sein Nachfolger als Präsident geworden. Nach langjähriger Freundschaft wurde ihm letztendlich die Ehre zuteil, die Grabrede auf den großen Meister der St.-Petersburger Schule zu halten.
Die Manipulation des Radioempfangs nach dem Krieg ließ zeitgenössische westliche Musik zunächst die Grenze nicht passieren, sonstige Kontakte waren unmöglich. Ältere Literatur wurde hingegen überall gespielt und gesendet ohne Selektion nach Herkunft. Mit der Kenntnis tradierter Kompositionstechniken ging daher die russische Musik ihren eigenen Weg, unbeirrt von Moden, bei Schtschedrin auch unberührt von propagandistischen Vorgaben. Die eigenen Erfahrungen, Erlebnisse und Begegnungen mit Menschen sind das Material, das für den in Moskau geborenen Schtschedrin entscheidend für die Kunst ist, die auf der technischen Basis aufsetzt.
„Für mich sind die Grenzen nicht eindeutig, zwischen dem, was konservativ, modernistisch oder sonstwie ist. Für mich existiert nur gute und schlechte Musik, interessante und langweilige. Mich interessieren keine Systeme. Die geben ja keine Garantie“, bringt Schtschedrin seine Haltung auf den Punkt. Er habe auch die zeitgenössischen westlichen Kompositionstechniken kennenlernen können und sie zu seiner technischen Basis hinzugefügt. Doch als entscheidend sieht er die Intuition an: „Das schlechteste, was einem Komponisten passieren kann, ist, dass er das Vertrauen in sich selbst verliert“. Viele Komponisten würden sich etwa an Kollegen, Lehrern oder Kritikern orientieren. Daraus könne keine gute Musik entstehen. „Wenn in mir eine Musik erklingt, will ich glauben, dass das, was in mir erklingt, auch richtig ist.“ Und ob es nun tonal, traditionell oder anders geartet ist, sei zweitrangig.
Jede Komposition hat ihre Geschichte, die in Schtschedrins Erzählungen ein Stück eines ganz anderen Bildes von Russland offenbart. Wenn es etwa um Erinnerungen aus seiner Kindheit an den Ufern der Oka geht, die mit weiten Schalmei-Klängen der Kuhhirten verbunden ist. Oder um seine Reise zum Kloster Ferapontow, die so gar nichts mit dem heutigen Tourismus zu tun hatte. Privat auf Strohlagern hätte man da übernachtet, um die Fresken des Dionisij sehen, und schließlich vertonen zu können.
Der Glaube ist für Rodion Schtschedrin wichtig. Sein Großvater war russisch-orthodoxer Geistlicher, der seine Söhne aufs Geistlichen-Seminar zur Schule geschickt hatte. Auch er ist auf der Chorschule gewesen. Die kalten Kirchen ohne Sitzbänke, doch mit einer herausragenden Akustik spielen daher für die musikalische Sicht Schtschedrins eine große Rolle. Akustische Phänomene überhaupt. Die räumlich-klangliche Dimension der Musik sei ein wichtiger Bestandteil seiner Musik, bestätigt er.
Nach München kam Rodion Schtschedrin 1982 auf Einladung des Münchner Klaviersommers, wiederholt als Pianist, Organist und Komponist in den Jahren danach. München ist ihm damals ans Herz gewachsen, mit den vielen Straßenmusikern, die Simultan Michael Haydn, Scarlatti und Mozart spielten: „Die Mixtur war magisch! Das war eine fantastische Aleatorik!“, schwärmt er noch heute. Seine Begeisterung über das Münchner Musikleben verblasste, doch hier können sich er und seine Frau in die Anonymität zurückziehen, um sich vom Prominentenleben in Moskau zu erholen.
Am 3. Dezember findet an der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München ein Festkonzert zum 80. Geburtstag von Rodion Schtschedrin mit dem Ensemble Zeitsprung (Leitung Markus Elsner) statt. Aus diesem Anlass erscheint auch eine CD des Ensembles mit Werken Schtschedrins sowie von Boris Tischtschenko.