Als Brigitta Muntendorf kürzlich den Ernst-von-Siemens-Förderpreis entgegennahm, tat sie etwas relativ Ungewöhnliches. Dass sie eine kleine Dankesrede hielt, war zwar nicht unbedingt üblich, wäre aber nicht weiter im Gedächtnis geblieben, wenn darin nicht einige Anmerkungen zum (Neue-Musik-)Betrieb enthalten gewesen wären.
Muntendorfs überraschender Exkurs über ihre künstlerischen Intentionen wurde befeuert von einer Kritik an den elitären Zügen einer Kunstform, die nach Ansicht der Komponistin immer noch zu sehr von der Gesellschaft abgewandt produziert und wahrgenommen wird. Zeitgenössische Komposition, so Muntendorfs Tenor, müsse dorthin gehen, wo es brennt und den Finger in die Wunde gesellschaftlicher Realität legen. Eine der schmerzhaftesten Wunden aber, so die Komponistin gegenüber der nmz, sei die gesellschaftliche Isolation der Neuen Musik: „Ich arbeite in einer zeitgenössischen Kunstform, die wenig daran interessiert ist, als Sprachrohr in der Gesellschaft zu agieren. Aber um in der Gesellschaft zu wirken, muss man sich mit Mechanismen und somit auch zwangsläufig mit Material auseinandersetzen, das eine Gesellschaft kontinuierlich verändert und gestaltet. Wenn ich die Veränderung der Begriffe wie Gegenwärtigkeit und Abwesenheit, das Private und das Öffentliche heute musikalisch bearbeiten und thematisieren möchte, dann reicht es nicht, ein Ensemblestück zu schreiben, dessen Sprache sich auf virtuose Spieltechniken und bedachte Instrumentation konzentriert.“
Mit dieser Ansicht steht die Komponistin nicht alleine da. Sie kann durchaus als Teil eines momentan stattfindenden Generationen- und damit einhergehenden Paradigmenwechsels betrachtet werden, in dessen Verlauf Komponistinnen und Komponisten musikalische Wirklichkeiten zunehmend mit außermusikalischen zu verknüpfen suchen und in grenzüberschreitenden Formaten gegen einen stereotypen „Neue-Musik-Sound“ ankomponieren. Trotz aller Infragestellung des Habitus’ zeitgenössischer Partituren soll Neue Musik freilich keine Spielform von Pop werden: „Es geht mir nicht darum, die Neue Musik dazu aufzurufen, eine Musik für ‚alle‘ zu sein. Das funktioniert nicht, zum Glück nicht! Weil unsere Gesellschaft und eine Demokratie nicht so funktioniert. Dass jede Kunstform auch elitäre Tendenzen hat, liegt auf der Hand, weil sie die Auseinandersetzung und angeeignetes Wissen seitens der Rezipienten erfordert – ein privilegierter Raum, den natürlich nicht alle Menschen aufgrund ihrer Lebensumstände oder ihrer Sozialisation betreten können. Ich wünsche mir aber Folgendes: Wenn ich mich abends auf einer Party mit Menschen unterhalte, die ab und an mal ins Theater, ins Kino, vielleicht auch mal in ein Konzert gehen, oder wenn ich in eine Schule gehe und mit Oberstufenschülern ein Stück schreibe – ich wünsche mir, dass ich diesen Menschen nicht erklären müsste, was Neue Musik ist! Die Tatsache, dass ich das fast immer tun muss, zeigt mir, dass die Neue Musik als Kunstform noch immer eine von der Gesellschaft isolierte Position einnimmt.“
Viel ist in jüngster Zeit in der Szene über zeitgemäße und unzeitgemäße Komposition, über „Konzept-Musik“, „contemporary classic“ und ähnlich zweifelhafte Etiketten gestritten worden. Brigitta Muntendorf hat lange vor solchen Diskussionen die traditionellen Produktionsformen von Kunstmusik (oder sagen wir besser Musik-Kunst?) medial erweitert und hinterfragt. Sie umreißt die Problematik so: „Ich denke, dass es im Kern in dieser Diskussion nicht um die äußere Form einer Komposition geht, sondern um die Materialfrage im heutigen Komponieren. Und hier besteht ein aus der Musiktradition herrührendes Problem: Wir arbeiten mit Musikern, die in ihrer Ausbildung eine bestimmte Vorstellung von Virtuosität und von ‚Klangschönheit‘ vermittelt bekommen, die aus einer anderen Zeit stammt und für andere Musik entwickelt wurde. Aber wo stehen wir heute? Blicken wir mal zur Seite – ein bildender Künstler muss der Leinwand keinen Respekt zollen, er kann sie verwüsten, missbrauchen, sie unsichtbar machen. Er kann sie auch einfach missachten und stattdessen ein Video drehen oder einen zwölf Meter hohen Hundekopf bauen lassen. Darf ein Komponist oder eine Komponistin sich so verhalten? Natürlich. Ich plädiere für Freiheit!“
Auf die Frage, warum sie selbst immer wieder auf das „traditionelle Medium“ Instrumentalensemble zurückkommt, antwortet die Komponistin: „Ich habe immer wieder den Wunsch, nachdem ich an multimedialen Setups gearbeitet habe, herauszufinden, wie sich die dabei gemachten Erfahrungen auf ein rein akustisches Stück auswirken. Und hier stellt sich die spannende Frage: Verwende ich musikalisches Material in dem traditionellen Denken des ‚Schöpfers‘ und des ‚Meisterwerks‘ oder – und für diese Haltung plädiere ich – verwende ich musikalisches Material in einem reflektierenden Denken bezüglich seiner Entstehung und heutigen Bedeutung und arbeite mit Inkonsistenzen, mangelnden Verifikationen und Transformationen meiner Musik und meiner eigenen Identität, wie es die Gegenwart erfordert.“
Auch wenn sie im scheinbar konventionellen Ensemble-Rahmen verbleiben und nicht selten durch minutiös ausformulierte Klangvorstellungen aufhorchen lassen – Brigitta Muntendorfs Stücke sind selten einfach „nur“ Musik. Schon eher kommunikative Versuchsanordnungen, die akustische, visuelle und soziale Aspekte komplex miteinander vernetzen. Partiturformat und Performancecharakter stehen sich dabei nicht im Weg und gehen eigenwillige Symbiosen ein. Instrumentalstücke wie „In Sync“ für zwei Ensembles von 28, 56 oder 112 Instrumenten (2012), in denen Bewegungsabläufe des Machens synchronisiert oder in bewusste Divergenz zum klanglichen Resultat gestellt werden, loten das Verhältnis musikalischer und visueller Gestik aus und bewegen sich dabei nah am „instrumentalen Theater“. Aber auch aktuelle Social-Media-Formen werden als konzeptuelle Ebene einbezogen, um musikalische Produktions- und Wahrnehmungsmechanismen erfahrbar zu machen. In der Werkreihe „Public Privacy“ (2013) tritt ein solistischer Live-Performer mit einer Collage aus YouTube-Instrumentalisten in einen Dialog und reagiert in Echtzeit auf „Cover-Versionen“ für verschiedene Soloinstrumente, die in den heimischen vier Wänden entstanden. Öffentlichkeit und Privatheit, Original und Bearbeitung, Virtualität und „reale Gegenwart“ vermischen sich zur Unkenntlichkeit. Aktuellstes Stück der Serie ist „Public Privacy #3 Trumpet Cover“ für den Composer Slam der Jungen Deutschen Philharmonie. Letztere wird bis auf den Trompeter aber nur virtuell anwesend sein. „Das Stück setzt sich noch einmal auf eine ganz andere Art und Weise mit ‚Covern‘ in Social Media und der Frage nach ‚Public-Privacy‘ auseinander, da hier bewusst vermieden wird, YouTuber und Musiker der Jungen Deutschen Philharmonie voneinander abzugrenzen und weil nicht-musikalische Aktionen mit musikalischen Aktionen ‚gecovert‘ werden.“
Das „Spiel mit Identitäten“ in einer Gegenwart, in der die Grenzen zwischen Original und Kopie immer durchlässiger werden, ist ein wesentlicher Aspekt in Muntendorfs Musik. „reinhören“ (2010) reflektiert die Problematik des kompositorischen „Bearbeitens“ auf der Folie von Weberns Sechs Bagatellen, in dem das Webern-Material gleichsam mit der Lupe betrachtet ins Unkenntliche vergrößert wird. „CRACK“ für großes Orchester (2009) kommt einer abgründigen Zwiesprache mit Richard Strauss’ „Ein Heldenleben“ gleich, deren orchestrale Muskelspiele eher der Unkontrollierbarkeit und Brüchigkeit des Materials frönen als kompositorischer Kraftmeierei, kaputte Marsch-Fragmente inklusive. In „abschminken“ gibt es einen „abgeschminkten“ Bach in Gestalt prominenter Bach’scher „Schmerzensmusiken“ auf die Ohren, während ein Video zeigt, wie eine Sängerin „backstage“ allmählich ihr „wahres Gesicht“ freilegt. Die Zusammenarbeit mit Videokünstlern ist ein wichtiger Bestandteil von Muntendorfs multimedialer Musikkunst. Mit „Hello Body“ (2012) konzipierte sie zusammen mit Jürgen Palmer eine reine Videoarbeit, die fragmentierte Textrezitationen einer Schauspielerin auch visuell collagiert und Identitäten von Bild, Klang und Text per Zoomeffekt aufbricht. Ausgangspunkt: „Sweetheart, Goodbye!“ (2012), ein Stück für Stimme, Mono-Lautsprecher und acht Instrumente, in dem auf der Grundlage von Auszügen aus James Joyces „Ulysses“ Emotionen (und deren Klischees) zu Kompositions-Material werden, der exaltierte Gefühlshaushalt teilweise aber betont querständig zu Text und Klang konzipiert ist.
Der Wille, Musik als Reflexions- und Projektionsfläche existentieller Befindlichkeiten und damit gesellschaftlicher Realität(en) zu gestalten, hat in Muntendorfs bisherigen Arbeiten für Musiktheater besonders intensive Formen angenommen. Die entstehen seit 2011 vor allem für das Taschenopernfestival Salzburg, für Muntendorf der Ort eines Musiktheaters, „das hin-schaut, das aus-spricht, das keine Kompromisse sucht, sondern Wirklichkeiten schafft“. Der Komponistin geht es dabei – in Zusammenarbeit mit dem Regisseur Thierry Bruehl – weniger um larmoyante Anprangerung gesellschaftlicher Missstände, sondern vor allem darum, wie wir diese wahrnehmen und damit umgehen. In „Endlich Opfer“ (2013) ist es die Tatsachen-Geschichte zweier an einem italienischen Badestrand ertrunkener Mädchen, die den inhaltlichen Background bildet für einen Versuch darüber, wie eine Tragödie mit der sie umgebenden Realität (= Freizeitvergnügen) kollidiert oder eben auch nicht. „Wer zum Teufel ist Gerty“ (2011) treibt, ausgehend von Text-Passagen aus Joyces „Ulysses“, ein sprachlich abgründiges Spiel mit Begierde und Distanz, respektive der Annäherung von zwei Personen, die im Austausch von Egozentrik stecken bleibt. Die nächste Salzburger Taschenoper steht in den Startlöchern …
Momentan ist jedoch wieder rein Instrumentales akut, für das Klangforum Wien: „Missing ME“, das sich, so Muntendorf, „als Folgestück von ‚Missing T‘ mit Unschärfen und dem Prozess des Erinnerns beschäftigt. In diesem Stück kann ich keine Inhalte vermitteln, aber ich kann Inhalte aushöhlen. Das wird eine Herausforderung, aber Musik besitzt die Kraft der Silhouette und das Schöne daran: Sie kann das nach Byung-Chul Han in der heutigen Gesellschaft fehlende Mysteriöse, das Verdeckte und Rätselhafte in Form von Klanggestalten erfahrbar machen.“ Der gute alte „Rätselcharakter“ von Kunst scheint dann am Ende doch das letzte Wort zu haben…