Berlin, Konzerthaus am Gendarmenmarkt, im Juni – Samuel Adler hat Humor. Und Freude daran, ihn mit anderen zu teilen. Sicher, da sind diese bitteren Erfahrungen, die mit seiner Emigration aus Nazideutschland zusammenhängen. So weit das alles zurückliegt, es ist präsent, abrufbar. Wie jetzt, beim Gesprächskonzert des Berliner Geschichtsvereins musica reanimata, zu dem er als Ehrengast geladen ist. Ein hervorragend besuchter Abend, ein abwechslungsreiches Programm, exzellente Ausführende und ein Samuel Adler, Jahrgang 1928, der von der Schule erzählt, in die er nicht mehr gehen durfte, von seinem jüdischen Geigenlehrer, der ihn jeden Tag unterrichtete, weil er Hunger hatte. Diese Dinge.
Bis heute hat er sie auf der Zunge, die Sprachmelodie des Mannemerischen, des Mannheimer Dialekts. Man wird sofort warm damit. Unüberhörbar zugleich die besondere Art, mit der Samuel Adler seine frühen Erinnerungen aufruft. Spürbar sein Bemühen, einen harten, einen nicht selten empörenden Stoff so zu präsentieren, dass wir die Härte, das Skandalöse daran nicht so hart, nicht so skandalös empfinden mögen. Als ob er die Themen stets daraufhin abscannt, was an ihnen den Brüchen, Abbrüchen, dem Trennenden entgegenarbeitet, so dass wir vom Tristen, Niederschmetternden, das ihnen anhaftet wie ein schlechter Geruch, übergehen können auf etwas anderes, das den Ernst durch ein Lachen bricht. Was Samuel Adler interessiert, ist der Drehpunkt, auf dem er und sein Gegenüber steht, das Missing-Link, das sie beide verbindet. „Es muss es geben!“, ist seine Überzeugung. Als ob er beweisen wollte, dass wir uns verstehen können, wenn wir nur wollen. Das Wort, das Samuel Adler dafür gefunden hat, ist die „Brücke“. „Building Bridges With Music“ heißt die 2017 erschienene Autobiographie eines Musikers und Jahrhundertzeugen, der in hiesigen Konzertankündigungen, Programmzetteln durchweg als „deutsch-amerikanischer“ Komponist firmiert.
Ein Schlupfloch
Je länger man Zeit mit ihm verbringt, sich aus seinem Leben erzählen lässt, wird klar, dass das mit dem „bridge building“ nicht einfach so dahingesagt ist. Da hat man sich gerade kennengelernt und schon fühlt es sich so an, als hätte man „Sam“, wie ihn hier alle nennen, immer schon gekannt. Für Samuel Adler ist das ganz klar: Bekanntschaft beginnt, wenn wir uns bekannt machen. Und der Humor? Der hilft dabei. Eine Gabe, die man von einem Holocaustüberlebenden nicht unbedingt erwarten würde. Sam ist Zehn als er am Morgen nach dem Novemberpogrom in den Trümmern der niedergebrannten Mannheimer Synagoge steht, in der sein Vater Oberkantor war. Hugo Chaim Adler, ein Ernst-Toch-Schüler, ein Komponist religiöser Musik, dessen Kantate „Akedah“ – sarkastische Pointe der Realgeschichte – ausgerechnet an jenem 9. November 1938 uraufgeführt werden sollte. „Akedah“ übrigens das hebräische Wort für „Bindung“, das die rabbinische Theologie nach der Beinahe-Opferung Isaaks für den Gehorsam Abrahams gegenüber Jahweh gefunden hat. Ein Denken, in dem Hugo Chaim Adler verwurzelt war und dem jetzt die Grundlage entzogen ist, nachdem ein verhetzter Mob, von Staats wegen bestellt, in seiner Synagoge Feuer gelegt hat. Alles hat sich verkehrt. Das deutsche Judentum ist an sein Ende gekommen.
Und die Adlers? Für sie tut sich ein Schlupfloch auf. Zwar wird der Vater, wird Hugo Chaim Adler kurzzeitig im KZ Dachau interniert, kann aber über Holland, wohin ihm die Familie folgt, in die Vereinigten Staaten emigrieren. An der Seite der Eltern, der Schwester gelingt es so auch Samuel Adler, dem nazivergifteten Mannheim, das einmal seine Heimat war, den Rücken zu kehren. Im Frühjahr 1939 gehen die Adlers im Hafen von New York von Bord. „Voller Angst“, erinnert er sich. Nur nach vorn denken! Die Familie stürzt sich in ein neues Leben. Hugo Chaim findet Auskommen und Tätigkeit in einer jüdischen Gemeinde in Worcester, Massachusetts. Und Sam?
Musik-Brücken
Für ihn steht fest: „Ich will Amerikaner werden!“ Und natürlich Komponist. Letzteres beginnt mit Kursen bei Paul Hindemith, Paul Pisk, Walter Piston, Randall Thompson, Aaron Copland. Vor allem Copland habe aus ihm einen amerikanischen Tonkünstler gemacht, sagt er. Ständiger Begleiter: seine Geige. Die Grundlagen gelegt hatte Albert Levy, bis zu seiner Entlassung Konzertmeister des Pfalzorchesters. Erste Schritte auf dem Weg zu einer Musiker-Karriere in der Neuen Welt. In Tanglewood, bei Serge Koussevitzky, lernt Samuel Adler das Dirigieren. Er wird amerikanischer Staatsbürger und kehrt schon 1951 in das Land der Täter zurück – in der Uniform der US-Army. Und mit der Bereitschaft, die Hand auszustrecken, „bridges“ zu bauen mit etwas, das seinem eigenen Leben Inhalt, Sinn, Festigkeit verliehen hat. Auf einmal ist sie da, diese Idee. Sie kommt ihm als er sich und seine Musikerkollegen zur Armee eingezogen sieht. „Wieso sollen die schießen?“, fragt er sich. Es ist der Initialfunke für das „Seventh Army Symphony Orchestra“, dem einzigen symphonischen Klangkörper der amerikanischen Streitkräfte. Ohne große Worte, musizierend, mit schier unglaublichen neunzig Konzerten in einhundert Tagen, füllt man die deutsch-amerikanische Verständigung mit kulturdiplomatischem Leben.
Gründungsdirigent Samuel Adler: „Man sollte sehen, dass auch wir Amerikaner Kultur haben – nicht nur Drinks und Fräuleins gut finden.“ Anwesend bei den ersten Konzerten übrigens auch General Dwight D. Eisenhower. Mit der Musik sei er einverstanden gewesen, erzählt Samuel Adler, nicht aber mit ihrer Präsentation: „I don’t like your uniform!“. Für den nächsten Tag wird Sam ins Büro des Oberbefehlshabers einbestellt, damit man ihm dort eine weiße Generalsuniform mit Epauletten schneidert – passend für einen „conducting commander in chief“!
Ein anderes Beispiel fürs Brückenbauen à la Sam Adler ereignet sich im Umkreis des Armeestützpunkts Baumholder in der Pfalz. Der Auftrag lautet sinngemäß auf Öffentlichkeitsarbeit unter Einbezug der deutschen Bevölkerung. Wie genau? Adler solle sich etwas überlegen. Was er tut: In der Folge initiiert Samuel Adler die Gründung eines ökumenischen Kirchenchors, was einer kleinen Kulturrevolution gleichkommt, pflegen Katholiken und Protestanten doch seit Jahrzehnten höfliche Distanz, Pastor und Priester sprechen nicht miteinander. Sam Adler hilft, die Eiszeit zu beenden. Es ist die vielleicht schönste Anekdote, jedenfalls eine, die sein Lebensmotto am klarsten vor Augen führt.
Leben aus Fülle
Der Anlass fürs Berliner Gesprächskonzert liegt natürlich auf der Hand: 1928 bis 2018. Samuel Adler feiert seinen 90. Geburtstag – und das gleich mehrmals: in seiner Heimatstadt Toledo, Ohio, in New York, wo ihm in Vertretung des Bundespräsidenten das Bundesverdienstkreuz verliehen wird, in Mannheim, wo er seit langem ein gern gesehener Gast ist und schließlich noch einmal im Rahmen einer nachgeholten Geburtstagsfeier in Berlin – auch hier mit viel Musik und ebensoviel Humor, den beiden Tragpfeilern seines Lebens. Apropos. Auch die treuen, die regelmäßigen „musica reanimata“-Besucher konnten sich nicht erinnern, dass in einem Gesprächskonzert einmal so viel gelacht worden wäre wie in dieser 135. Ausgabe der Reihe „Verfolgung und Wiederentdeckung NS-verfolgter Komponisten und ihrer Werke“. Dazu kam der Umstand – Moderator Albrecht Dümling wunderte sich stellvertretend –, dass immerhin achtzehn Familienangehörige mit vor Ort waren. Eine Überlebenden-Geschichte, die anders ist. Das Reduzierte der Existenz, die Einsamkeit, die Trauer, die Schuldgefühle – all dies hat im Fall Samuel Adlers etwas anderem Platz gemacht, einem Reichtum. Samuel Adler schöpft aus der Fülle, was auch seiner Musik anzumerken ist. Man kann von einer Polystilistik sprechen, von einer Musik, die viele Väter hat, die frei ist von Berührungsängsten, die freiatonal, manchmal tonal ist, dann in ein diatonisches oder serielles Gewand schlüpft und die offen ist für den Blick in andere Genres. Tanzrhythmen, Blues gehen ein. „Ich schreibe, was kommt!“, sagt der Komponist.
Mit Noah Bendix-Balgley hat er den amtierenden Konzertmeister der Berliner Philharmoniker mitgebracht – einen Freund. Auch diese Geschichte hat etwas Typisches. Als Bendix-Balgley vor ein paar Jahren einen erfahrenen Musiker sucht, der ihm sein neukomponiertes Klezmer-Stück orchestriert und als er dies dem zufällig anwesenden Sam Adler verrät, antwortet der wie aus der Pistole geschossen: „Ich mach’ das!“ Was nur auf den ersten Blick als leichtfertig gelten kann. Mit der 1982 in den Druck gegangenen „Study of Orchestration“ ist Samuel Adler immerhin der Autor eines Lehr- und Studienbuches in der Tradition eines Hector Berlioz. Noah Bendix-Balgley konnte sich niemand Kundigeren wünschen. Seitdem kennt man sich, seitdem ist der Geiger auch der geschätzte Interpret für Adlers Kammermusik geworden. Doch bitte, nicht zuviel Ernst! Als Moderator Albrecht Dümling auf die Parallelität aufmerksam macht, dass Adlers soeben vorgetragene Violin-Sonate in dem Jahr entstanden ist als der Komponist in Emily Freeman-Brown seine zweite Ehefrau kennenlernt, bemerkt sein Gesprächsgast ebenso trocken wie selbstironisch: „Deswegen ist es so ein gutes Werk!“ – Die Opulenz dieses Œuvres kann nur angedeutet werden: fünf Opern, sechs Sinfonien, acht Streichquartette, eine stattliche Reihe von Instrumentalkonzerten, Chormusiken, Lieder.
Nimm hin mein Lied
Was die Vokalmusik angeht, bezieht der Komponist Anregungen aus der amerikanischen, aus der deutschen Literatur, aus den Grundtexten der Weltreligionen, worin das liberale Judentum seines Elternhauses wie das der Mannheimer Vorkriegsgemeinde sicherlich nachwirkt. In der religiösen Überlieferung sieht Samuel Adler nicht das Abgrenzende, nicht das Sich-absolut-setzen – für ihn sind die Religionen Quellen für eine Ethik des Menschen. Mit großer Selbstverständlichkeit hat er vor ein paar Jahren Texte des Alten und des Neuen Testaments vertont, etwa wenn er für das zweite Stück seiner „Choral Trilogy“ Worte aus dem Römerbrief verwendet. Dessen Autor war bekanntlich ein konvertierter Jude – undenkbar im Rahmen eines orthodoxen Verständnisses des Judentums. Für Samuel Adler spielt das keine Rolle. Wichtiger ist ihm, dass sein „The Spirit Helps Us In Our Weakness“ in einer Bach-Tradition steht: „Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf“. So etwas zählt.
Mit den vier „Songs of innocent Love“ für Sopran, Violine, Klavier nach Gedichten von Selma Meerbaum brachte das Berliner Gesprächskonzert zu guter Letzt die berührende Seite seiner Musik zu Gehör. Verantwortlich dafür, neben den Begleitern Bendix-Balgley/Moll, vor allem die Sopranistin Sabine Goetz. Die an der Musikhochschule Mannheim ausgebildete Sängerin fand einen besonderen Ton für diese Lieder, die der Veranstaltung insgesamt einen Brückenschlag besonderer Art bescherten: Mit einem Mal war man wieder bei den Anfängen, bei den frühen Wunden dieses Musikerlebens. Ende 1939, drei Jahre vor ihrem Typhustod in einem Zwangsarbeitslager im heutigen Moldawien – demselben Jahr, da Samuel Adler glücklich in New York landet – bringt die 15-jährige Selma Meerbaum in einer verhängten, rabenschwarzen Welt deutschsprachige Gedichte zu Papier, die auf abenteuerlichen Wegen überdauern. Die Dichterin – wie Rose Ausländer, wie Paul Celan aus Czernowitz gebürtig – verarbeitet darin einen Trennungsschmerz. Samuel Adler ist das nicht unbekannt. Weich, singend, träumerisch versteht er es, diese Gedichte mit seinem Mannemerisch zu rezitieren – sie als Komponist in hohe, ja extreme Lagen zu überführen. Das letzte dieser vier Lieder beginnt so: „Nimm hin mein Lied / Es ist nicht froh / Der Regen weint und weint / Und wer ihn sieht / Weiß sowieso / Wie es das Glück gemeint.“
Veranstaltungshinweis
In einem Gedenkkonzert zum 80. Jahrestag des Novemberpogroms wird unter Leitung von Hans-Christoph Rademann ein Auftragswerk des Dresdner Kammerchors von Samuel Adler uraufgeführt werden. Termin: Dresden, Frauenkirche, 9. November 2018, 20 Uhr.