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Man muss mit den Ohren sehen …

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Zum 80. Geburtstag des großen europäischen Ton-und-Film-Künstlers Jean-Luc Godard
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Demnächst soll er seinen ersten Academy Award erhalten, der letzte Dinosaurier der Nouvelle Vague: Jean-Luc Godard. Es wird natürlich ein Ehren-„Oscar“ sein, denn für den regulären Preis war der Solitär des europäischen Kinos immer zu „unkommerziell“ gewesen. Wie kein anderer hat der am 3. Dezember 1930 in Paris geborene Filmregisseur seit Anfang der Sixties die Grammatik und die Syntax des Kinos verändert.

Doch das soll uns hier ausnahmsweise nur am Rande interessieren. Hier soll es vor allem um den Tonkünstler Godard gehen, der seit seinen Anfängen mit dem Soundtrack experimentierte. Anfangs arbeitete er noch mit Filmkomponisten zusammen, dem Jazzmusiker Martial Solal bei „Außer Atem“, Michel Legrand bei seinen frühen Filmen mit Anna Karina, Georges Delerue bei „Die Verachtung“ oder Antoine Duhamel bei „Pierrot le Fou“. Doch schon damals zerstückelte er gern die Kompositionen seiner Freunde.

Nach „Weekend“ ging diese Phase 1968 zu Ende mit dem Rolling-Stones-Film „One Plus One“. Im Zentrum dieses typischen 68er-Projekts steht die Entstehung eines Stones-Songs, „Sympathy For The Devil“. Die Fans, zu denen damals natürlich auch der spätere Philosoph Klaus Theweleit gehörte, waren enttäuscht. Im Rückblick freilich gehören diese Szenen zu den ganz großen Momenten der Pop & Film-Geschichte. Wir dürften Godard ewig dankbar sein dafür, meint Theweleit, „für die wunderbar ruhige genaue Aufzeichnung der Arbeit dieser Fünf (Brian Jones ist noch dabei) bei der Herstellung von Sympathy. Godard, obwohl er lieber die Beatles gehabt hätte für diesen Film, ist seinem Wunsch, die menschliche Arbeit zu filmen, selten näher gekommen als hier. Mick Jagger bei der Arbeit ist ein wirklicher Musiker (nicht ‚Bühnenderwisch‘), der Kopf dieser Band, der an der Gitarre, die er auf der Bühne nie spielt, der Gruppe den Rhythmus, den Gestus des Stücks vorgibt; man sieht, wie er jeden Moment den Entwicklungsgrad des Stücks im Kopf hat, ihn kontrolliert, fast alle Verbesserungen kommen von ihm. Man sieht, warum es diese Band noch gibt, es ist ihre Arbeitsweise.“ Vier Jahrzehnte später hat dann ein Stones-Fan noch einmal die „Performance“ Jaggers mitinszeniert, Martin Scorsese in „Shine A Light“.

In den 70er-Jahren verabschiedete sich Godard dann ein Jahrzehnt lang fast ganz vom Kino. Bei seiner Rückkehr betonte er immer mehr die Tonspur seiner Filme. In den 90ern ver-schwanden dann seine Filme bei uns ganz aus dem Kino. Sein letzter Film, der noch regulär 1990 ins Kino kam, trug den ironischen Titel „Nouvelle Vague“. Obwohl sogar Alain Delon mit dabei war, hatte der Film nichts mehr mit der Neuen Welle von damals zu tun. Und das Hören war inzwischen bei Godard fast wichtiger als das Schauen geworden. Den Film gibt es bis heute nicht in Deutschland auf DVD, aber den kompletten Soundtrack hat ECM-Produzent Manfred Eicher 1997 gewissermaßen als „Hörfilm“ auf CD veröffentlicht. Die Liner Notes schrieb seinerzeit die blinde Autorin Claire Bartoli. Sie hat den Film „hörend erlebt“. Wie es Godard im übrigen schon intendiert hatte: „Wenn Sie die Tonspur meines Films hören, ohne die Bilder zu sehen, ist das sogar noch besser.“ Ihr erster Eindruck: „Ich kann nicht erahnen, was vor sich geht. Der Ton verrät nichts über die Handlung, nur einige Elemente der Szenerie und einen Eindruck von Bewegung. Aufschlussreiche Klänge: Schritte auf einem Steinboden, auf Treppen, das Schlagen einer Uhr … Vogelgesang, das Knirschen von Autorädern auf dem Kies, Gewieher, Hundegebell, Blätter werden gefegt, Vögel in den Baumkronen. Die Stimmen draußen haben nicht denselben Klang wie die in den Innenräumen.“ Und sie schließt ihre Eindrücke von „Nouvelle Vague“: „Ein gehörter Film, ein geträumter, ein neu erfundener … Er hinterlässt in mir einen leicht subversiven Geschmack vom Unsichtbaren und Ewigen.“ Godards Tonmontagekunst hatte seinen Zweck erfüllt. Wie immer hatte Godard nicht „zitiert“, sondern montiert. Filmgeschichte werde bei Godard grundsätzlich weder aus „Fakten“ oder „Daten“ kompiliert, meint Theweleit, noch würden Geschichten erzählerisch ausgebreitet: „Hier wird auf vielen Ebenen in vielen Schichten Geschichtliches zu einer Art neuer Kenntlichkeit verdichtet.“

Die Kunst dieser Art von „Verdichtung“, sie beherrschte der europäische Künstler Godard wie kein zweiter seiner Generation.
 

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