Die Kompositionen von Paul-Heinz Dittrich sind künstlerische Zeugnisse eines wagemutigen Individualismus. Sein Schaffen zeichnet sich, wie das anderer in der DDR lebender Komponisten seiner Generation, durch eine Besonderheit aus: Es entwickelte sich in zwei grundlegend verschiedenen Gesellschaftssystemen, in denen Kunst und Kultur einen jeweils anderen Stellenwert hatten: zuerst innerhalb des diktatorischen Sozialismus der DDR, dann innerhalb der Gesellschaft der wiedervereinigten BRD.
Dem in jedem System waltenden Anpassungszwang widerstand Dittrich in doppelter Weise: Er ließ sich weder von der Ideologie im Namen eines Sozialismus vereinnahmen noch von einer aufführungsfördernden Marktgängigkeit. Im Gegensatz zu vielen anderen aber hatte er – im Rückblick – doppeltes Glück: Da Aufführungen von Kulturfunktionären der DDR in der Regel verboten wurden mit der Begründung: zu formalistisch, dekadent oder wie die „Niederschlagworte“ (Friedrich Dieckmann) alle hießen, ergaben sich seit Anfang der 1970er Jahre Uraufführungsmöglichkeiten jenseits der Mauer. Der größte Teil seiner Werke aus den 1970er und 1980er Jahren erklang erstmals in Frankreich, in der Schweiz, in Westdeutschland, Italien oder in den Niederlanden: in Witten, Utrecht, Köln, Boswil, Donaueschingen, Royan, Metz …. Der Vierzigjährige wurde zum künstlerisch heimatlosen Wanderer zwischen den beiden Deutschländern, der immer wieder in die DDR zurückkehrte. Zurück nach Zeuthen bei Berlin, wo er im internationalen Freundeskreis um Paul Dessau seine geistige Heimat gefunden hatte.
Durch die Jahrzehnte hindurch entwickelte Paul-Heinz Dittrich seine stilistisch eigenwillige Musik zu einem sich verzweigenden Organismus aus geistig komplexen, spielpraktisch an- spruchsvollsten Kompositionen, orientiert an den Maßstäben der westeuropäischen Avantgarde.
Das Kunstwerk als geistiger Prozess
Er gehört zu den experimentellsten Komponisten seiner Generation, folgte aber immer einer Ästhetik, die das Kunstwerk als geistigen Prozess und Musik als Konstruktion, als Sprache und Ausdruck ernst nimmt. Zugleich fühlt er sich in seinem Arbeitsethos Heiner Müller verbunden, der sagte: „Antworten und Lösungen interessieren mich nicht. Ich habe keine. Mich interessieren Probleme und Konflikte.“ Während eines privat aufgezeichneten Gesprächs mit seiner Frau Margarita Kerwokian-Dittrich, spitzte der Komponist noch zu: „Wenn die Kunst neue Wege zu gehen versucht, muss sie sich an Abgründen aufhalten.“ Kompositorisch und spielpraktisch muss sie bis zum äußerst Möglichen gehen. In origineller Weise nutzte er dafür schon bald auch Tonbandzuspiel, elektroakustische und elektronische Techniken.
Das Zentrum aber, aus dem Dittrichs Komponieren seit „Les fleurs de Baudelaire“ für 3 Soprane, Flöte, 2 Bassklarinetten, Cembalo, 3 Bratschen, Kontrabass und Schlagzeug (1966-1967) innovatives Potenzial bezieht, ist Sprache: zuerst die experimentelle Poesie des Russen Velemir Chlebnikov, dann Beckett, Carlfriedrich Claus, später Baudelaire, Mallarmé, Verlaine, Novalis, Hölderlin, Rimbaud, Brecht, Nelly Sachs, Rilke, Heiner Müller … und immer wieder und bis zuletzt, Paul Celan. „Sie haben eigentlich mein ganzes Denken verändert“, sagte Dittrich 1991 im Gespräch mit dem Musikwissenschaftler Manfred Machlitt.
Lettrismus, Spatialismus und Phonetische Poesie
Entscheidende Anregungen für diese Literatur erhielt er als Meisterschüler der Akademie der Künste der DDR von seinem Lehrer Rudolf Wagner-Régeny. Dittrich setzte sich mit Lettrismus, Spatialismus und Phonetischer Poesie auseinander, Kunstrichtungen, die für ihn zu wichtigen Orientierungen wurden, um aus der ideologisch eingeschnürten, geistigen Enge in der DDR auszubrechen. Solche literarischen Kunstformen bildeten das Ferment für die Entwicklung einer eigenen musikalischen Poetik mit kompositorischen Strategien wie „phonetisch-instrumentale Poesie“, „poetisch-instrumentale Poesie“ und „parataktisch-instrumentale Mikrophonie“. Deren kontinuierliche Ausarbeitung führte zum Konzept einer abstrakten, emotional erfahrbaren Inhaltlichkeit. Durch klanglich feinste Ausdifferenzierungen sollte eine „Mehrdimensionalität der Wahrnehmung“ und damit ein neues Zeiterleben möglich werden. Denn Dittrichs kompositorisches Konzept schloss den Hörer mit ein, den Fetischismus einer Materialrevolution lehnte er ab. In seinem Spätwerk entwickelte er musikalische Strategien, die zur Auflösung von formalen Festlegungen führten und im Sinne der literarischen Technik Parataxis das Verschiedene gleichberechtigt nebeneinanderstellen.
Paul-Heinz Dittrichs Werke stehen für eine unbeirrbare künstlerische Kontinuität. Ihre Akzeptanz oder Ignoranz durch die Gesellschaft sagt mehr über diese aus als über seine Musik. Ab Mitte der 1990er Jahre beginnen auch bei ihm nicht nur die Aufträge, sondern ebenso die Uraufführungen auszubleiben. Sein Schaffenselan aber versiegt nicht. Seit 1995 entstehen noch 42 Kompositionen, darunter so umfangreiche wie „Orestie. Ein musikalisches Raumprojekt“ für 3 Soprane, Tenor, Bariton, Bass, 2 Sprecher, Chor, Orchester und Live-Elektronik (2004-2010) oder als letztes Werk 2017 „Das öde Land“ für Sopran, Vokalensemble und Orchester nach T.S. Eliots Langgedicht von 1922 „The waste land“. Mit dem 90. Geburtstag von Paul-Heinz Dittrich am 4. Dezember feiern wir zugleich ein abgeschlossenes Lebenswerk. Er erkrankte 2018 so schwer, dass ihm das Komponieren unmöglich geworden ist. Aber wie Vieles gibt es in diesem Abgeschlossenen noch zu entdecken, aufzuführen, zu erleben?