Neue Musik aus ihrer Quarantäne zu entlassen und zugleich traditionelles Repertoire vom Sockel der musealen Heiligkeit in eine lebendige Gegenwart zu locken, klingt im eingefahrenen Musikbetrieb mit seinen klar sortierten Schubladen zunächst sehr mühselig. Aber vielleicht muss man dies einfach tun, um noch nicht einmal so überrascht feststellen zu können, dass es auch im großen Rahmen bestens funktioniert.
„Einerseits lieben wir das klassisch-romantische Repertoire, andererseits interessieren wir uns auch sehr für die Musik von heute“, begründet die Geigerin Birgit Erz die Motivation dazu. „Die Zusammenarbeit mit Komponisten fanden wir immer unheimlich bereichernd“, setzt die Cellistin Ilona Kindt nach. Zusammen mit der Pianistin Karla Haltenwanger bilden sie das renommierte, heute in Berlin ansässige Boulanger Trio. Und das habe schon immer Lust auf eine eigene Konzertreihe gehabt, heißt es einhellig. Seit 2012 gibt es sie, in Hamburg, Berlin und nun auch in München.
Schon ein Jahr nach der Ensemblegründung 2006 in Hamburg gewann das Boulanger Trio den 4th Trondheim International Chamber Music Competition in Norwegen. Nahezu alle bedeutenden Musikfestivals Europas luden das Ensemble mittlerweile ein. Dass sich das preisgekrönte Trio in der eigenen Konzertreihe, der Boulangerie, der zeitgenössischen Musik zuwandte, kam nicht von ungefähr. „Nachdem wir bei den etablierten Konzertreihen gesehen haben, dass die zeitgenössische Musik immer noch stiefmütterlich behandelt wird, kam bei uns der Wunsch auf, ein Format zu finden, mit dem wir dem Publikum die Musik von heute nahebringen können“, bringt Erz auf den Punkt. Schon 2008 hatte das Ensemble den Rauhe Preis für Neue Kammermusik verliehen bekommen sowie immer wieder Werke Neuer Musik für die Klaviertrio-Besetzung ausfindig gemacht und ins Programm genommen. „So interpretiert zu werden, ist wohl für jeden Komponisten ein Wunschtraum“, motivierte schließlich Wolfgang Rihm in einem Brief. Mit der neuen Konzertreihe ergab sich dann die Gelegenheit, mit den Komponisten persönlich auf einer breiteren Basis zusammenzuarbeiten.
Einmal mehr kam bei der Gründung der Konzertreihe die Inspirationsquelle des Ensembles zur Hilfe: Nadia Boulanger. Sie hatte einst regelmäßig am Mittwochabend Studenten, nachmalig namhafte Kolleginnen und Kollegen zum Privatsalon nach Hause eingeladen, neue Kompositionen vorzustellen und sich bei Gebäck auszutauschen. Die Idee der „Boulangerie“ mussten die Musikerinnen des Boulanger Trios in ihren eigenen Intentionen wiedererkennen, wenn auch mit anderem inhaltlichen Schwerpunkt – und mit Baguette und Wein im geselligen Teil. Und der ist nicht zu vernachlässigen, betont Erz: „Zum Format gehört unbedingt dazu, dass wir mit dem Publikum ins Gespräch kommen.“ Hierbei können die Konzertbesucher auch mit dem jeweils eingeladenen Komponisten auf Tuchfühlung gehen und diskutieren bisweilen auch kontrovers das Gehörte.
Aber nicht nur dies ist einzigartig bei dieser Konzertreihe. Die Boulangerie wagt, was andere Musiker und Veranstalter nicht selten fürchten: Dynamik, Flexibilität und vor allem Spontaneität. Die Programme entstehen in enger Abstimmung mit den eingeladenen Komponisten, folgen daher keinem starren Schema und sorgen schon damit für Abwechslung und auch Überraschungseffekte. Falls nötig, werden auch Gastmusiker in Betracht gezogen. Schlüsselwerke der Komponisten aus dem klassisch-romantischen Repertoire gehen hier als Gegenpol den aktuellen Kompositionen voraus. Letztere sind bisweilen explizit in Auftrag gegeben und bei der Boulangerie in Uraufführungen zu hören. Sie werden schon mal in letzter Sekunde als Manuskript erst fertig oder noch während der Proben geändert. So ist die Arbeit des Ensembles Teil des Werkentstehungsprozesses.
„Es ist uns sehr wichtig, dass der eingeladene Komponist im Mittelpunkt des Abends steht“, betont Kindt zum Konzept. Deshalb führt das Trio zwischen dessen Werken ein Podiumsgespräch mit ihm. Und das verläuft immer spontan, daher auch beim zweiten oder dritten Mal weiterhin lebendig. Es geht dabei nicht etwa um musikwissenschaftliche Fragestellungen. Der Mensch hinter dem Namen solle spürbar werden, heißt es. „Das war uns immer sehr wichtig, dass wir Konzerte für ein breites Publikum anbieten“, begründet Kindt den oft recht emotionalen Ansatz. Und das sorgt für ausverkaufte Häuser – in Berlin im Radialsystem V und in Hamburg früher im Kampnagel, nun in der Laeiszhalle. Moderne Räume, um auch der Schwellenangst des jüngeren Publikums entgegenzuwirken.
Johannes Maria Staud, Evan Gardner, Peteris Vasks, Jens Joneleit, Friedrich Cerha, Samir Odeh-Tamimi, Thomas Larcher, Dieter Ammann, Mauricio Kagel (vertreten durch Tochter Pamela Kagel) und Toshio Hosokawa waren schon zu Gast, José Maria Sanchez Verdú und Michael Jarrell folgen aktuell. Dass bisher keine Komponistin in der Reihe eingeladen war, ergab sich rein organisatorisch, versichern die Musikerinnen. Gespräche hätten bereits stattgefunden. Die Engländerin Rebecca Saunders, die Österreicherin Olga Neuwirth, Isabel Mundry und die Finnin Kaija Saariaho stehen auf dem aktuellen Wunschzettel.
Relativ neu in der Reihe sind Konzerte in München auf Einladung von Einstein Kultur. „Es ist die perfekte Location für unser Format“, sagt Erz. So wagte das Trio im Februar das erste Klassikkonzert in diesen Räumen überhaupt, die Boulangerie VIII mit Thomas Larcher. Am 11. Oktober ist der Schweizer Komponist Dieter Ammann Gast der zweiten Münchner Boulangerie. Ein Pedant seines Fachs im besten Sinne des Wortes, der eine extrem präzise Vorstellung davon hat, wie seine Stücke zu klingen haben. Seine korrekturlosen Noten seien übersät mit Anleitungen, berichten Kindt und Erz. In Anbetracht dessen auch für die Musikerinnen eine bisher einzigartige Erfahrung.