Eine beeindruckende, einmalige Unterrichtsstunde hätten die Grundschüler in Großmehring erlebt, berichtete der „Donaukurier“ neulich über ein Gesprächskonzert mit Musik von Bach bis Chatschaturjan. Verschafft hatte ihnen dieses Erlebnis Vardan Mamikonian, der sonst eher in den Konzertsälen zwischen Paris, London und San Francisco anzutreffen ist als in bayerischen Schulen.
Doch ungewöhnlich war der Auftritt nicht. Im Rahmen der Konzertreihe „Meet the Artist – Schüler treffen Künstler“ des Konzertvereins Ingolstadt hat der armenisch-französische Pianist schon zahlreiche Schulkonzerte gegeben und sein junges Publikum für die klassische Musik begeistert. Und immer hat er ein Stoffchamäleon dabei, als Symbol für die Wandlungsfähigkeit des Klavierklangs, die er mit seinem geschmeidigen Spiel so mühelos erlebbar machen kann. Berührungsängste mit Laien kennt er nicht, was für einen Virtuosen seines Formats nicht ganz selbstverständlich ist. Musikmachen ist für ihn keine abgehobene Spezialistentätigkeit, sondern lebendige Kommunikation mit seinen Zuhörern, ob jung oder alt, ob fachkundig oder nicht.
Seit seiner Heirat mit der Klavierpädagogin Gabriele Klaschka wohnt Vardan Mamikonian mit ihr und den beiden Kindern in Ingolstadt. Tochter Isabelle ist bereits regionale Preisträgerin von „Jugend musiziert“. Er ist zwar häufig auf Tournee oder schaut in seiner Zweitheimat Paris vorbei, wo 1991 seine internationale Karriere begann und heute seine Eltern leben. Doch Ingolstadt ist für ihn so etwas wie ein ruhiger Hafen geworden. Davor war er überall ein bisschen und nirgendwo richtig zu Hause. Ein reisender Solist und armenischer Emigrant in Paris. Der Angehörige einer Volkes, von dem nach dem Genozid von 1915 große Teile in alle Welt verstreut wurden. Bei der armenischen Gemeinde in Paris, der größten in Europa, ist er als Künstler gern gesehen. Doch eher selten sind spektakuläre Events wie vor vier Jahren, als er im Pariser Olympia auftrat. Zum Wohltätigkeitskonzert für soziale Projekte in Armenien hatte ihn der Chansonnier Charles Aznavour – auch er armenischer Herkunft – eingeladen, und mit einer brillanten eigenen Bearbeitung von Chatschaturjans „Säbeltanz“ brachte er das erlauchte Publikum, darunter Staatspräsidenten und Minister, zum Rocken.
Wer bei Google „Vardan Mamikonian“ eingibt, muss aufpassen, dass er nicht auf den falschen Link klickt und dann einen Recken in antiker Rüstung auf den Bildschirm bekommt. Vardan Mamikonian heißt nämlich auch ein legendärer Kriegsheld, der im fünften Jahrhundert das Christentum in Armenien einführte, in der Schlacht gegen die Perser starb und später heilig gesprochen wurde. Sein klavierspielender Nachfahre und Namensvetter hingegen wurde 1970 in Erewan, der Hauptstadt der damaligen Sowjetrepublik Armenien, in eine Musikerfamilie hineingeboren. Mit dreizehn wurde der Hochbegabte nach Moskau geschickt, wo er erst eine Vorbereitungsschule besuchte und dann mit achtzehn in das Konservatorium aufgenommen wurde. Er studierte bei Valery Kastelsky, einem Schüler von Heinrich Neuhaus, und hier wurde auch sein einzigartiger Klangsinn geschult; Technik war für ihn ohnehin kein Problem. „Das erste, was ich dort lernte, war, dass man die Tasten nicht schlägt, sondern streichelt. Neuhaus verstand Technik im griechischen Sinn als ‚techne‘, als künstlerische Tätigkeit ganz allgemein.“ Die Studenten sollten Ideen entwickeln, ihre eigenen Farben finden, sich mit Poesie und Theater befassen. „Neuhaus legte Gewicht auf eine umfassende Bildung der Studenten, und sein Schüler Kastelsky hat das an uns weitergegeben.“
1991 kam Mamikonian nach Frankreich, um am Klavierwettbewerb Yvonne Lefébure teilzunehmen. Er bekam den ersten Preis. Zugleich nahm er im italienischen Imola noch Unterricht bei Lazar Berman. Der Wettbewerb war für ihn ein Einstieg in das französische Repertoire. In Moskau hatte er vor allem Bach, Beethoven und die romantische Tradition von Chopin, Liszt, Tschaikowsky und Rachmaninoff gespielt; nun kamen auch Debussy und Ravel dazu. Und Henri Dutilleux, der in der Jury saß und zu dem sich danach ein freundschaftliches Verhältnis entwickelte. Als er dann 1992 den Wettbewerb „World Music Masters“ in Monte Carlo gewann, bei dem nur erste Preisträger anderer Wettbewerbe zugelassen waren, stand der Weg für eine internationale Karriere offen. Er konzertierte in den USA mit den Firstclass- Sinfonieorchestern, machte mit dem Kirov-Orchester unter Valery Gergiev eine Westeuropa-Tournee und gab Soloabende in den großen Konzertsälen der Welt.
Früher kam Mamikonian auf jährlich über fünfzig Konzerte, doch heute hat er seine Konzerttätigkeit gedrosselt. „Ich bin nicht interessiert, viel zu spielen. Das ist unproduktiv und sogar schädlich“, sagt er. Er arbeitet permanent daran, sein Repertoire zu erweitern. Demnächst tritt er zum ersten Mal mit den Bachs Goldberg-Variationen auf. Der zeitgenössischen Musik gegenüber ist er offen. Er spielt Werke des französischen Zwölftöners und Akusmatikers Michel Philippot, von Nicolas Bacri und Bruno Mantovani, und Franz Hummel schrieb für ihn Variationen über „Kilikia“, eine berühmte armenische Melodie. Mit Pavel Berman hat er sämtliche Werke für Violine und Klavier von Prokofieff eingespielt (Dynamic CDS654), und neuerdings macht er Kammermusik mit der Geigerin Arabella Steinbacher.
Sein Kernrepertoire ist aber bis heute die große romantische Literatur. Es macht ihm nichts aus, beide Etüden-Zyklen von Chopin hintereinander im Konzert zu spielen. Zwei CDs dokumentieren seinen souveränen Umgang mit Liszt. Eine enthält pianistische Prüfsteine von der Campanella-Etüde bis zum ersten Mephisto-Walzer (Orfeo C472981), die andere rückt mit „Liebestraum“, „Funérailles“ und „La lugubre gondola“, die eine fulminante Interpretation der h-Moll-Sonate einrahmen, den poetischen, gedankenschweren Liszt ins Blickfeld. (Dynamic CDS730)
Bravour ist eine Seite von Mamikonians Pianistik, Erinnerung eine andere. Komitas, dem Begründer der modernen Musik Armeniens, erweist er seine Referenz mit der Einspielung von Tänzen und Liedern, gesungen von Hasmik Papian (Audite 1092570ADT), und von seinem Landsmann Arno Babadjanian (1921–1983) spielt er im Konzert nicht nur das halsbrecherisch schwere, zwölftönige „Poem“, sondern auch die berückend schöne „Elegie“ über die Melodie eines alten Volkssängers. Die Musikkultur der Heimat Armenien bleibt in seinem Herzen präsent.