Schleswig-Holstein und seine Landeshauptstadt Kiel seien eine Diaspora der Neuen Musik, so wird es gerne behauptet. Auch Friedrich Wedell, Gründer und Motor des „Forums für zeitgenössische Musik“ in Kiel, würde dem wohl nicht grundsätzlich widersprechen – aber viele wichtige Aspekte hinzufügen. Wer die Arbeit des „Forums für zeitgenössische Musik“ verstehen wolle, so Wedell, der müsse sich mit der Vorgeschichte der Neuen Musik im Kieler Musikleben auseinander setzen.
Mit Akribie hat Wedell also die Spuren seiner Vorgänger zusammengetragen. Die führen zurück bis in die 1920er-Jahre als der Musikwissenschaftler Fritz Stein in Kiel ein Collegium musicum gründete und später die Stelle des Generalmusikdirektors übernahm. Stein führte mit „Sonderkonzerten zur Neuen Musik“ sein Publikum vorsichtig an die eigene Zeit heran, und in Steins Umfeld wurde an der Kieler Universität um 1929 eine „Arbeitsgruppe für Neue Musik“ gegründet. Doch die Aktivitäten von Stein und seinem Umkreis endeten bald nach der Machtergreifung. Bereits hier zeichnet sich ab, was seither für die Geschichte der Neuen Musik in Kiel prägend blieb: Fast immer hing die Pflege zeitgenössischer Musik an der Initiative von Einzelpersonen, zumeist aus dem universitären Umfeld.
Die große Stunde der Neuen Musik in Kiel schlug in der Ära von Joachim Klaiber. Der Generalintendant der städtischen Bühnen von 1963 bis 1976 verpflichtete mit Peter Ronnefeld und Hans Zender zwei Chefdirigenten, die zugleich Komponisten waren. 1968 wurde die Reihe „musica nova“ gegründet, und Klaiber erteilte verstärkt Kompositionsaufträge, unter anderem an Bernd Alois Zimmermann für dessen „Ekklesiastische Aktion“. Schon im Jahr 1957 war an der Christian-Albrecht-Universität außerdem ein „Arbeitskreis für Neue Musik“ gegründet worden, der bis 1981 rund 170 Veranstaltungen organisierte. Doch 1994 strich das Studentenwerk diesem Arbeitskreis die Mittel; und nachdem 1995 auch die Intendanz von Peter Dannenberg an der Oper zu Ende gegangen war, entwickelte sich Kiel zu jener Neue-Musik-freien Zone, als die die Stadt heute vielfach wahrgenommen wird. Nur die „Gesellschaft für akustische Lebenshilfe“, ein Ein-Mann-Unternehmen des Komponisten Hauke Harder, und das ensemble reflexion K trugen bis 1999 beziehungsweise 2003 noch das Banner der Avantgarde. Die Gründung des „Forums für zeitgenössische Musik“ war der Versuch, anzuknüpfen an das, was es in Kiel an Neue-Musik-Pflege gegeben hatte. Der Vorläufer des Forums wurde 2003 als studentischer Arbeitskreis an der Kieler Universität gegründet; so knüpfte dieser „Arbeitskreis für neue Musik“ an seinen Vorgänger aus dem Jahr 1957 an. Im Jahr 2005 wurde der studentische Arbeitskreis in „Forum für zeitgenössische Musik“ umbenannt, seine Zielsetzungen und Projekte aber blieben dieselben: Das Forum erstellte eine Online-Datenbank zu Komponisten aus Schleswig-Holstein und veranstaltete Vorträge und Konzerte in der Kieler Kunsthalle. Mit Einführung der Bachlor-Studiengänge verebbte jedoch das studentische Engagement, der Arbeitskreis löste sich 2009 auf.
Unter dem Namen „Forum für zeitgenössische Musik“ hatte Friedrich Wedell 2007 außerdem einen eingetragenen Verein mit begründet, der locker an die Universität Kiel gebunden ist; ein Vorstand des Vereins muss Professor des Musikwissenschaftlichen Instituts sein. Die Hauptaufgabe dieses Forums ist die Übernahme der Trägerschaft für Kiels jüngste Errungenschaft in Sachen Neue Musik: das zweijährlich stattfindende Festival „chiffren“. So bündelt sich das ehrenamtliche Engagement für die Neue Musik in Kiel also in der Person von Friedrich Wedell, der 1. Vorsitzender des Forums und zugleich künstlerischer und geschäftsführender Leiter der seit 2006 stattfindenden Biennale „chiffren“ ist.
Rund 30 Mitglieder hat das „Forum für zeitgenössische Musik“ heute. Aus deren Beiträgen sowie Spenden und Zuwendungen der Sparkassenstiftung finanziert Wedell seine Projekte. Neben der Kunst gilt das Augenmerk des Musikwissenschaftlers und ehemaligen Kirchen- und Schulmusikers dabei der Lehre. Mit „Tuchfühlung“ und „Musik-labor“ hat Wedell zwei Projekte aufgelegt, die Neue-Musik-Kompetenz an Musiklehrer vermitteln und über sie in die Schulen tragen sollen. Und auch das LandesJugendEnsemble Neue Musik Schleswig-Holstein geht auf seine Initiative zurück. Daneben führt das „Forum für zeitgenössische Musik“ die Datenbank zu Komponisten aus Schleswig-Holstein fort und veranstaltet – meist in Kooperation mit Kulturinstituten wie dem Institut français – eigene Konzerte.