Hauptbild
Tenor Martin Nagy brachte Beethoven und eine künstliche Intelligenz miteinander ins Gespräch. Foto: Martin Sigmund
Tenor Martin Nagy brachte Beethoven und eine künstliche Intelligenz miteinander ins Gespräch. Foto: Martin Sigmund
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Mit Vokalsprachmusik Grenzen überwinden

Untertitel
Das europäische Lyrikprojekt „Poetry Affairs“ der Neuen Vocalsolisten Stuttgart · Von Rainer Nonnenmann
Publikationsdatum
Body

Musik und Sprache verbindet ein besonderes Nahverhältnis. Beide verfügen über Klang, Rhythmus, Dynamik, Tempo, Intonation, Expression. Vor allem Vokalmusik und Poesie werden seit jeher verschmolzen. Sollen nicht bloß vorsprachliche Laute oder Phoneme hervorgebracht werden, so artikuliert man beim Singen Texte welcher Art auch immer. Und will man nicht nur prosaisch beliebige Inhalte kommunizieren, so dichtet man Silbenfolgen, Versmaße, Strophen, Vokalstände, Reime, Assonanzen, Wörter, Bilder…

Für Sängerinnen und Sänger ist es selbstverständlich, sprachbestimmte Kompositionen nicht nur von der Musik her zu interpretieren, sondern ebenso vom zugrunde liegenden Text. Dennoch ist es etwas Besonderes, wenn nun die Neuen Vocalsolisten Stuttgart ihre Arbeit nicht wie sonst üblich primär von zeitgenössischer Musik her denken, sondern von zeitgenössischer Lyrik. Das international renommierte Ensemble bringt seit bald vierzig Jahren in wechselnden Besetzungen neue Kompositionen zu Ur- und Wiederaufführungen. Doch viele Stücke verzichten auf Narration und reduzieren Sprache auf Klang, indem sie Vokalstimmen gleichsam instrumental verwenden. Das Ensemble möchte daher gezielt zeitgenössische Musik und Dichtung verbinden.

Musikalische Lyrik

Einen Anstoß gab die fast 600 Seiten umfassende Anthologie „Grand Tour: Reisen durch die junge Lyrik Europas“ (2019). Der Band enthält Gedichte von nach 1968 geborenen Autorinnen und Autoren aus 49 Ländern in fast ebenso vielen Sprachen samt deutscher Übersetzungen. Den Herausgebern Federico Italiano und Jan Wagner geht es in dieser Sprach- und Landesgrenzen überwindenden Sammlung ebenso um Europa als Mythos, Utopie und gegenwärtige Realität wie um die uralte Form des Gedichts. Sie sehen in lyrischen Sprachkunststücken die Möglichkeit, „die gegenwärtigen Ängste, Hoffnungen, Erwartungen, Spannungen Europas wie unter einem Brennglas sichtbar werden“ zu lassen. Zusammen mit dem Dichter Jan Wagner – Georg Büchner-Preisträger des Jahres 2017 – haben die Neuen Vocalsolisten fünf Dichterinnen sowie drei Komponistinnen und zwei Komponisten aus zehn europäischen Ländern eingeladen, „gemeinsam die Beziehungen von Sprache, Komposition und Vokalkunst zu erkunden“. Allein die linguale Vielfalt (Albanisch, Deutsch, Englisch, Hebräisch, Finnisch, Katalanisch, Niederländisch, Russisch, Weißrussisch) zeigt Diversität als zentrale Eigenschaft Europas.

Gegenwärtig suchen viele Künstlerinnen, Ensembles und Veranstalter nach kokreativen Produktionsweisen, alternativen Darbietungsformen und neuen Kontexten für Musik jenseits des traditionellen Konzertformats. Man möchte Anschlussstellen zu anderen Kunstformen oder aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen und Themen schaffen. Befeuert wird diese Bewegung durch die gegenwärtige Krise des Konzerts und seiner Institutionen, welche die Corona-Pandemie katalysatorisch beschleunig hat.

Auch den Neuen Vocalsolisten geht es in ihrem Langzeitprojekt „Poetry Affairs“ um interdisziplinäre Produktion und – wie der Titel andeutet – poetische Auseinandersetzungen mit verschiedenen privaten oder öffentlichen Verhältnissen und Angelegenheiten. Die Kombination von Sprach- und Vokalkunst zielt dabei auf ästhetische und kulturelle Vielfalt sowie politische Themen. Dass mit Ausnahme von zwei Komponisten nur Komponistinnen und Dichterinnen beteiligt sind, wird im Rahmen des Projekts zwar nicht eigens thematisiert, birgt aber die Entwicklung spezifisch weiblicher Sichtweisen und feministischer Themen.

Das Projekt des 17-köpfigen Teams wird seit Sommer 2022 von der Ensembleförderung Neustart Kultur der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien gefördert und soll die Genres Vokalmusik und Lyrik auf möglichst neue, genreuntypische, voraussetzungslose Art und Weise verbinden. Erste Ergebnisse waren Anfang Februar beim Festival Eclat im Stuttgarter Theaterhaus zu erleben. Alle fünf Tage begannen mit viertel- bis halbstündigen Vorstellungen in wechselnden Besetzungen von Solo, Duo, Trio oder Quartett.

Die Dichterinnen traten mit eigenen sprachlichen Darbietungen in Erscheinung oder waren in den vertonten Texten präsent. Die fünf Uraufführungen bewegten sich im Rahmen üblicher Genres oder fluktuierten frei zwischen Konzert, Lesung, Lied, Recital, Hörspiel und Theater. Im Laufe des Jahres sollen die bisherigen Performances mit weiteren zu einer großen Erzählung ausgearbeitet und dann bei Eclat 2024 als Gesamtheit uraufgeführt werden. Bleibt abzuwarten, welche Richtung das Unternehmen noch nehmen und wie die Stücke zu einem großen Ganzen verknüpft werden, das mehr ist als die Summe der Teile.

Hörstücke

In „Tis Nature’s Voice“ spricht Countertenor Daniel Gloger einen englischen Erzähltext der albanischen Dichterin Luljeta Lleshanaku über ihre Kindheit und Erfahrungen in den USA. Die von der russischen Komponistin Dariya Maminova zugespielten Klänge umfassen elektronische Störgeräusche, Spieluhren, Kirchenglocken, Radiofetzen, Pop- und Volksmusik. Szenische Qualität entfaltet die auditive Situation erst, als der Sprecher mit sichtbarer Anstrengung das anschwellende Gewirr an Geräuschen und Stimmen zu übertönen versucht, um schließlich ohnmächtig davon überfahren zu werden. Nach lärmendem Kulminationspunkt beginnt der Sänger, zart und hoch zu singen. Dazu ruft er über ein Keyboard von ihm zuvor eingespielte Sprach- und Vokalaufnahmen ab, so dass sich sein Monolog zu einer multipolaren Zwiesprache mit sich selbst vervielfältigt.

Zum Hörspiel neigt auch „Elephant“ der britischen Dichterin Deryn Rees-Jones. Die Erzählerin schildert einen Gang durch ein Krankenhaus während der Corona-Pandemie, illustriert durch Zuspielungen konkreter Klänge, Stimmen, Atmosphären, Akustiken, Krankenwagensirenen. Erst beim Betreten des Klinikfahrstuhls kippt das Setting und artikuliert Bassist Andreas Fischer auf der Bühne leise Atemgeräusche und Glissandi. Auch das bereits mehrfach beschworene Leitmotiv „Elephant in the room“ betritt plötzlich leibhaftig den Theatersaal. Der israelische Komponist und Performer Bnaya Halperin-Kaddari wickelt sich einen über die Szenerie windenden Gartenschlauch langsam um den Hals, durch den er gleichzeitig wie ein Elefant röhrt und trompetet. Ein Symbolbild: Wer offensichtliche Tatsachen nicht ausspricht oder gar leugnet, erstickt daran.

Für Dariya Maminovas „microsongs“ bilden die beiden Sänger mit Sopranistin Johanna Vargas und Bariton Guillermo Anzorena ein Vokalquartett. Die Miniaturen auf Texte von Lleshanaku und Vera Burlak bestehen aus charakteristischem Singen, Sprechen, Flüstern, Pfeifen. Hier verwandelt sich ein vierstimmiger Satz zur mikrotonalen Harmonik geblasener Flaschen. Dort erklingt ein anrührendes Wiegenlied oder wächst in virtuoser Madrigaltechnik eine Positionsbestimmung vom Kleinen ins Große: „In the middle of the table, in the middle of the carpet, in the middle of the room, the house, the town, of nowhere“. Zwischen den Vokalstücken trägt die belarussische Dichterin Vera Burlak Texte vor.

Obwohl im Publikum vermutlich kaum jemand Weißrussisch versteht, erschließt sich die surreal-phantastische Poesie durch ausdrucksstarke Mimik, Gestik und vielseitige deklamatorische Mittel. Besonders ein Streitgespräch zwischen Pan und Syrinx sowie die onomatopoetischen Lautfolgen eines geschlagenen Tamburins hätten des projizierten deutschen Texts kaum bedurft.

Transformationen

Die fremdsprachige Poesie bereitete dem Stuttgarter Publikum gleichwohl Schwierigkeiten. Meist erschloss sich nur der Sprachklang, der bei Lyrik zwar besondere Qualitäten hat, in dem sich Lyrik aber gemeinhin nicht erschöpft. Punktuell bot man Untertitel wie in Kino oder Oper. Doch Übersetzungen geben in der Regel Worte und Inhalte wieder, während wegfällt, was Poesie wesentlich ausmacht: Sprachklang und Rhythmus, Wortspiel und Ironie, historische und situative Konnotationen, dialektale Färbungen und Idiolekte, Mehrdeutigkeiten, Anspielungen, Querverweise, Zitate, Metaphern und vieles mehr.

Der sprachgebundene Kunstcharakter von Lyrik lässt sich kaum übersetzen. Und genau darin liegt das größte künstlerische Potential. Statt Worte von einer Sprache in die andere zu übersetzen, gibt es auch gänzlich andere Möglichkeiten, etwa non-verbale Transformationen in visuelle Poesie, Licht, Farben, Requisiten, Kos­tüme, Schauspiel, Pantomime, Bild- und Videoprojektionen, lebende Bilder oder anderes. Von solchen Kombinations- und Ausdrucksmöglichkeiten haben die „Poetry Affairs“ bisher nur begrenzt Gebrauch gemacht. Die meis­ten Szenerien boten kaum anderes als ein konventionelles Konzert. Lediglich ein paar Neonröhren sorgten für karge Gliederung der ansonsten schwarzen Bühne.

This problem is …

Musiktheatral erweitert war indes „Problems“ auf einen Text der finnischen Autorin Cia Rinne und Musik der Katalanin Gemma Ragués Pujol. Während eine Endlospapierrolle die Bühne flutete, sprachen und sangen drei Vocalsolisten an Rednerpulten eine Litanei aus Substantiven der Vorsilbe Pro. Vor allem das Wort „Problems“ erfuhr zahllose variative Fortsetzungen „This Problem is…“, grundiert von Liegetönen und repetitiven Abspaltungen der Endsilbe „blem, blem, blem“. Die problembelastete Konstellation erwies sich schließlich als Therapiesitzung, bei der die Komponistin in der Rolle der Psychologin das verworrene Treiben zu verstehen versucht und letztlich vergeblich zu „Solutions“ rät. Interaktiv war auch „Wo weilst du – An die ferne (entfernte) Geliebte“ der niederländischen Autorin Maria Barnas und des aus München stammenden Komponisten Severin Dornier.

Tenor Martin Nagy sang Lieder aus Beethovens „An die ferne Geliebte“ von 1816 nach Gedichten von Alois Isidor Jeitteles. Mit der Leihstimme von Sopranistin Susanne Leitz-Lorey reagierte darauf der KI-Chatbot GPT, der selber Lyrik verfasst und dem zweihundert Jahre älteren Vorgänger antwortet: „was Du beschreibst ist romantisch, aber für eine Seelenverwandtschaft scheint mir das wenig angemessen“. Bleibt abzuwarten, wie bei „Poetry Affairs“ die zeitgenössische Musik und Lyrik ihre „Seelenverwandtschaft“ weiter entdecken und gestalten.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!