Grenzen gleich welcher Art mochte Claudio Abbado in seinem Leben nie akzeptieren. Er liebte es, mit seinem Boot auf dem weiten Meer zu segeln oder über schneebedeckte Gebirgstäler auf hohe Gipfel zu blicken. Und die beiden Engel aus Wim Wenders Film „Der Himmel über Berlin“, verkörpert von seinen Schauspielerfreunden Bruno Ganz und Otto Sander, inspirierten ihn zu der Vision von einer globalen Kultur, für die er in der wiedervereinten Hauptstadt einen besonders fruchtbaren Nährboden erahnte. So entwarf er in seiner Zeit als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker von 1990 bis 2002 wechselnde Themenzyklen, die von der Musik aus über alle Länder hinweg Brücken zu Literatur, Theater, bildender Kunst und Film spannten.
Musik als universale Sprache lernte er schon früh in seiner Heimatstadt Mailand kennen. Sein Vater Michelangelo, Geiger und Musiklehrer, führte mit seinen Freunden Trios von Schubert, Brahms und Beethoven auf. Die Mutter Maria Carmela, Pianistin und Kinderbuchautorin, gab ihm den ersten Klavierunterricht. Das aufeinander Hören und zusammen Musizieren in der Kammermusik sollte fortan seine Idealvorstellung vom menschlichen Miteinander sein. „Hört einfach zu“, sagte er später immer wieder seinen Musikern. Welch unerklärliche Faszination Musik ausüben kann, entdeckte er mit sieben Jahren bei seinem ersten Besuch in der Scala. Der Licht- und Farbenreichtum von Debussys „Nocturnes“, dirigiert von Antonio Guarnieri, zogen den kleinen Claudio so sehr in seinen Bann, dass er sich vornahm, diese Magie selbst zu erschaffen.
Sein Studium führte Abbado später von Mailand weiter nach Wien zu dem bekannten Dirigentenlehrer und Webern-Schüler Hans Swarowsky, bevor er 1958 in Tanglewood bei Boston 1958 den Kussewitzky-Preis und fünf Jahre später den ersten Preis beim Mitropoulos-Wettbewerb in New York gewann. Erste größere internationale Engagements brachten ihn mit den Wiener Philharmonikern erstmals zu den Salzburger Festspielen und an das Pult der Berliner Philharmoniker.
Ermöglicher des Unmöglichen
Die Neugier, die ihn zeitlebens auf seinem künstlerischen Weg begleiten sollte, führte ihn rasch auch zu zeitgenössischer Musik. Bei seinem Debüt an der Piccola Scala leitete er 1965 die Uraufführung von Giacomo Manzonis Oper „Atomtod“. Als Musikdirektor des Opernhauses wurde er in Italien nicht nur zum Entdecker von Komponisten wie Mahler und Bruckner, sondern machte auch durch die Zusammenarbeit mit herausragenden Regisseuren wie Giorgio Strehler, etwa bei Verdis „Simon Boccanegra“ und „Macbeth“, oder mit Jean-Pierre Ponnelle unter anderem bei Rossinis „La Cenerentola“ von sich reden.
Um durch Musik die Gesellschaft zu verändern, öffnete Abbado in den Jahren nach 1968 die ehrwürdige Scala auch für ein Publikum aus Arbeitern und Studenten. Gemeinsam mit seinen Freunden, dem Komponisten Luigi Nono und dem Pianisten Maurizio Pollini, führte er neue Musik zudem in Fabriken auf und beteiligte sich an Gesprächskonzerten des Forums „Musica/Realtà“ in Reggio Emilia. 1972 wurde Nonos Werk „Como una ola de fuerza y luz“ uraufgeführt, drei Jahre später folgte „Al gran sole carico d’amore“ in der Regie von Jurij Ljubimow. Abbado setzte durch, dass nicht nur Nono, sondern auch Luciano Berio oder Karlheinz Stockhausen von der Scala Kompositionsaufträge erhielten.
In Wien, wo er als Chef der Staatsoper und der Philharmoniker wirkte, gründete er als Generalmusikdirektor der Stadt 1988 das Festival „Wien Modern“, das zeitgenössische Musik bis heute mit Kunstausstellungen, Tanz, Performances und Filmaufführungen verbindet. In Wien habe er oft den Satz „Das ist unmöglich“ gehört, sagt Abbado. Für ihn sei dies aber umso mehr ein Anreiz gewesen, seine Ziele bis zum Ende zu verfolgen.
Das interdisziplinäre Konzept entwickelte er später mit den Berliner Themenzyklen weiter, die in fast jeder Saison unter einem anderen Schwerpunkt standen. Den Anfang machte 1992 „Prometheus“ mit Werken von Beethoven, Nono und Liszt. Mit „Hölderlin“, „Der Mythos und die griechische Antike“, „Faust“, „Shakespeare“ oder „Liebe und Tod/Amore e Morte“ baute Abbado die Netzwerke zwischen der Philharmonie und anderen Kulturinstitutionen immer weiter aus. In jener Zeit des kulturellen Umbruchs in Berlin verbanden ihn Freundschaften etwa mit dem Regisseur Stein und dem Schauspieler Bruno Ganz. Es sei ihm darum gegangen, „nicht nur Konzerte auf höchstem Niveau zu realisieren, sondern die Musik als treibende Kraft in weiterführende Prozesse einzubinden“, erklärt er in dem Buch „Musik über Berlin“, das er gemeinsam mit Lidia Bramani schrieb. Von seiner musikalischen Zusammenarbeit den Berliner Philharmonikern werden die Aufnahmen der Mahler-Sinfonien und Brahms-Werke unvergessen bleiben, ebenso die Beethoven-Sinfonien und die Klavierkonzerte, die er 2001 mit dem Orchester und Solisten wie Maurizio Pollini, Martha Argerich, Alfred Brendel und Jewgenij Kissin in Rom aufführte.
Kammermusikalische Haltung
Abbado war nicht nur ein unermüdlicher Vorkämpfer für neue Musik und spartenübergreifende Kulturprojekte, sondern auch ein Orchestergründer, der sich durch politische Hürden nicht abschrecken ließ. So gehörte er Ende der siebziger Jahre zu den Vätern des Jugendorchesters der Europäischen Gemeinschaft (heute: Union) und gründete 1986 in Wien das Gustav Mahler Jugendorchester, das damit schon vor dem Mauerfall Musiker aus Ost- und Westeuropa zusammenführte. Daraus ist eine weit verzweigte Orchesterfamilie entstanden, deren Mitglieder heute weltweit in renommierten Klangkörpern anzutreffen sind.
In seinen Jugendorchestern traf Abbado auf unvoreingenommene Neugier und frische Energie, die noch nicht durch Alltagsroutine ausgebremst worden war. Nach seinem Abschied 2002 aus Berlin nutzte er neue Freiräume, um weitere Orchester zu gründen, in denen Freunde seine kammermusikalische Haltung mittragen würden. Aus dem Europäischen Jugendorchester war bereits das Chamber Orchestra of Europe hervorgegangen, während ehemalige Mitglieder des Gustav Mahler Jugendorchesters 1997 mit Abbados Unterstützung das Mahler Chamber Orchestra initiierten.
In dem 2003 von ihm gegründeten Lucerne Festival Orchestra musizieren weltbekannte Solisten und Kammermusiker gemeinsam mit dem Mahler Chamber Orchestra. Der Zyklus der Mahler-Sinfonien, die er in den vergangenen Jahren am Vierwaldstättersee dirigierte, hat neue Maßstäbe gesetzt. Mahlers Musik wird durch Abbado noch transparenter und nuancierter, und der Schluss der Neunte Sinfonie bewegt sich noch weiter auf das Unhörbare zu.
Besonders eng war Abbados Beziehung auch zu seinem ein Jahr später aus der Taufe gehobenen Orchestra Mozart in Bologna, das sich vor allem den Werken seines Namenspatrons und dem klassisch-romantischen Repertoire widmet. Zum Pergolesi-Gedenkjahr 2010 spielte das Orchester teils kaum bekannte Werke des Barockkomponisten ein. Abbado befasste sich dazu mit der ihm eigenen Freiheit auch mit der historischen Aufführungspraxis. Mit allen drei Klangkörpern, die preisgekrönte Aufnahmen auf den Markt brachten, unternahm er in den vergangenen Jahren umjubelte Tourneen, die teils auch über Europa hinausführten.
„El Sistema“ als Vorbild
Bei einem Aufenthalt in Venezuela hatte Abbado bereits Ende der neunziger Jahre José Antonio Abreu und seine bahnbrechende Jugendorches-terbewegung „El Sistema“ kennengelernt. Davon beeindruckt, dass die Musik dort Hunderttausende Kinder und Jugendliche unabhängig von sozialer Stellung und Vorbildung erreicht, nahm er sich vor, dieses „System“ auch in seinem eigenen Land zu etablieren. Ein solches Netzwerk hat sich seit 2010 trotz knapper Kassen soweit entwickelt, dass inzwischen etwa 8.500 Kinder in 14 italienischen Regionen gemeinsam musizieren können.
Der Wunsch, die Musik in alle Winkel der Gesellschaft zu tragen, war Claudio Abbado insbesondere in Italien ein großes Anliegen, da schmerzhafte finanzielle Einschnitte die Künste akut in ihrer Existenz bedrohten. Kultur sei ein gesellschaftliches Allgemeingut, so lebensnotwendig wie Wasser, erklärte er einmal im Fernsehen. „Theater, Bibliotheken, Museen und Kinos sind wie viele kleine Aquädukte.“
Mit Tränen in den Augen wandte er sich 2009 nach der Aufführung von Schuberts „Tragischer Sinfonie“ dem Publikum in der von einem Erdbeben zerstörten Stadt L’Aquila zu. Ebenfalls mit dem Orchestra Mozart eröffnete er dort mehr als drei Jahre später einen neuen Konzertsaal in Form eines Kubus, den sein Freund Renzo Piano entworfen hatte. Auch nach den schweren Beben in der Emilia-Romagna 2012 war Abbado mit seinen Orchestern zur Stelle, um Geld für die Restaurierung des historischen Teatro Comunale in Ferrara zu sammeln.
Das Orchestra Mozart, in dem Solisten aus renommierten Orchestern in Europa mit dem musikalischen Nachwuchs spielen, führte bisher in Bolog-na Musiktherapie-Projekte mit kranken Kindern und Behinderteneinrichtungen sowie eine Chorwerkstatt mit Strafgefangenen durch. Nachdem aber private und öffentliche Sponsorenzuschüssen wegfielen, ist das Orchester bereits seit Herbst akut in seiner Existenz bedroht und musste Mitte Januar bis auf Weiteres seine Büros schließen. Da sein Gründer seit September aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr auftreten konnte, wurden mehrere Tourneeauftritte abgesagt, unter anderem auch in Deutschland.
Claudio Abbado, der vielen als größter Dirigent unserer Zeit gilt, konnte die Zukunft des Orchestra Mozart selbst nicht mehr sichern. Am 20. Januar ist er achtzigjährig im Kreis seiner Familie in Bologna an den Folgen einer schweren Krankheit gestorben. Mitglieder des Orchestra Mozart und andere Weggefährten gaben ihm das letzte Geleit und musizierten in der Basilica di Santo Stefano, wo die Öffentlichkeit zwei Tage lang Abschied nehmen konnten. Schlichte gelbe Sonnenblumen umrahmten den Sarg des bekennenden Umweltschützers, der auf Sardinien nicht nur jahrzehntelang seinen mediterranen Küstengarten hegte, sondern auch ein frei zugängliches Naturschutzgebiet anlegte. Claudio Abbados Tod hinterlässt eine schmerzliche Lücke. Seine Humanität, sein grenzüberschreitendes künstlerisches Schaffen und sein steter Einsatz für die Gesellschaft werden unvergessen bleiben.