Seit gut einem Jahr ist Jascha Nemtsov Professor für Geschichte der jüdischen Musik am Institut für Musikwissenschaft der Weimarer Hochschule für Musik Franz Liszt und der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Albrecht Dümling hat mit dem in Sibirien geborenen, seit 1992 in Deutschland lebenden Musikwissenschaftler und Pianisten über die Facetten seines Lehr- und Forschungsgegenstandes gesprochen.
neue musikzeitung: Herr Nemtsov, wie definieren Sie eigentlich Ihr Arbeitsgebiet? Ist jüdische Musik primär die Musik der Synagoge oder aber, wie noch in der Nazi-Zeit, alle Musik jüdischer Komponisten?
Jascha Nemtsov: Die Nazi-Definition kann ich am wenigstens akzeptieren, nicht nur weil sie aus der Nazi-Zeit stammt, sondern weil sie nicht richtig ist. Sie wurde übrigens nicht von den Nazis erfunden, wir kennen solche biologistischen Ansichten noch aus dem 19. Jahrhundert, beispielsweise von Richard Wagner. Damals war es gewissermaßen der Geist der Zeit: Man glaubte, dass die bloße Abstammung eines Komponisten dessen Musik unbedingt prägen würde, und so erwartete man in Werken von Komponisten jüdischer Abstammung besondere „jüdische“ Eigenschaften. Solche Ansichten wirken zwar im Musikleben teilweise immer noch nach, aber sie sind natürlich völlig falsch. Was die Musik der Synagoge angeht, so ist sie ein wichtiger Teil der jüdischen Musik, aber eben nur ein Teil eines viel größeren Themenbereichs. Für mich gehört dazu jedes musikalische Werk, das sich mit musikalischen Mitteln mit der jüdischen Identität auseinandersetzt. Die jüdische Identität ist sehr vielfältig, entsprechend vielfältig ist die Welt der jüdischen Musik.
nmz: Dem Lexikon „Musik in Geschichte und Gegenwart“ zufolge ist die Bestimmung jüdischer Musik bis heute umstritten. Einer aktuellen Definition zufolge geht es dabei nicht eigentlich um bestimmte Komponisten und Werke, sondern um „jüdisch bedingtes Verhalten“, also um die besondere Art der Aufführung. Warum ist die Definition jüdischer Musik so komplex?
Nemtsov: Für viele Menschen mag das Phänomen jüdischer Musik so schwer verständlich sein, weil mit dem Begriff des Judentums zugleich eine Religion wie auch ein Volk gemeint werden. Das mag verwirren. Außerdem gibt es immer noch kaum Standardforschung auf diesem Gebiet. Die Idee einer Definition, die an die Aufführungsbedingungen anknüpft, halte ich jedenfalls für problematisch. Ein Werk von Bach wird nicht dadurch zur jüdischen Musik, wenn es von einem jüdischen Musiker in einer jüdischen Gemeinde gespielt wird. Andererseits werden Werke jüdischer Musik nicht anders, wenn sie von nichtjüdischen Musikern aufgeführt werden.
nmz: Entsprechend der langen Geschichte des Judentums und der Diaspora der Juden, ihrer Zerstreuung in alle Welt, ist die Geschichte der jüdischen Musik ein riesiges Gebiet, das auch Regionen wie Nordafrika, Jemen, Irak, Iran und Kurdistan umfasst. Wollen Sie alle diese Aspekte berücksichtigen?
Nemtsov: Ja, all diese Aspekte gehören zum Themenfeld der Professur. Natürlich kann kein Mensch ein Spezialist in allen Bereichen sein. Mein eigenes Spezialgebiet ist jüdische Musik im 20. Jahrhundert, darüber habe ich viel geforscht und mich auch als Musiker intensiv damit beschäftigt. Ich möchte in meinen Veranstaltungen dennoch unterschiedlichste Facetten jüdischer Musik wenigstens überblickshaft behandeln und nichts ausschließen. Die Musik der orientalischen Juden gehört genauso dazu, wie sephardische Musik oder der osteuropäische Klezmer.
nmz: Welche Komponisten werden in Ihren Seminaren und Vorlesungen eine Rolle spielen? Der Kurt Weill der „Dreigroschenoper“ wird wohl fehlen.
Nemtsov: Die „Dreigroschenoper“ gehört sicher nicht zur jüdischen Musik, wohl aber der Kiddush, den Weill 1946 für die New Yorker Park Avenue Synagoge komponierte und der immer noch oft in der liturgischen Praxis benutzt wird. Außerdem natürlich „Der Weg der Verheißung“, in dem vielfältige Bezüge zur jüdischen musikalischen Tradition zu finden sind.
nmz: Arnold Schönberg verstand sich bis 1933 ausschließlich als deutschen, danach aber als jüdischen Komponisten. Welche seiner Werke sind jüdische Musik?
Nemtsov: Ich glaube, es ist nicht immer sinnvoll, genau klassifizieren zu müssen. Jüdische Identität spielt in späteren Werken Schönbergs in jedem Fall eine wichtige Rolle. Mit seinem „Kol Nidre“ wollte er einen Beitrag zur synagogalen Musik leisten. Dieses Werk wurde aber bekanntlich zu seiner großen Enttäuschung von keiner Gemeinde akzeptiert – nicht zuletzt wegen des sehr freien Umgangs mit dem Text dieses wichtigen Gebets. Schönbergs Psalm 130 wurde für eine Anthologie jüdischer Musik komponiert. In meinen Kursen habe ich außerdem schon oft die Kantate „Ein Überlebender aus Warschau“ behandelt.
nmz: Wird das 20. Jahrhundert in Ihren Veranstaltungen im Vordergrund stehen?
Nemtsov: Das 20. Jahrhundert ist sehr interessant und ich kenne mich dort gut aus. Es ist auch besonders günstig, dass wir davon Tondokumente haben. Aus früherer Zeit ist immer schwieriger zu berichten, weil es zum Teil nicht einmal Notenmaterial gibt. Insofern wird das 20. Jahrhundert einen großen, aber bei weitem nicht den ganzen Platz einnehmen. Mein letzter Vorlesungszyklus hieß zum Beispiel „Musik und Bibel“. Dabei ging es nicht nur um Musik in der Bibel, sondern auch darum, wie die biblischen Inhalte die Musik späterer Zeiten prägten. Das war also ein sehr breit angelegter Kurs und bei weitem nicht nur über das 20. Jahrhundert.
nmz: Selbst im 20. Jahrhundert ist ja vieles noch kaum bekannt. Ihr Spezialgebiet, die Neue Jüdische Schule, die in Russland entstand und dann europaweit wirkte, kennen bei uns nur wenige. Sehen Sie Chancen, diese Musik auch ins allgemeine Konzertleben zu integrieren?
Nemtsov: Das kann man schlecht sagen. Als musica reanimata vor vielen Jahren mit den Komponisten von Theresienstadt anfing, konnte man auch nicht ahnen, dass sie heute so bekannt werden und praktisch zum Standard-Repertoire gehören. Es ist natürlich meine Hoffnung, dass auch die Musik der Neuen Jüdischen Schule irgendwann eine solche Verbreitung findet.
nmz: Ein solcher Lehrstuhl für Geschichte der jüdischen Musik ist einmalig in Europa. Vielleicht sogar weltweit einmalig?
Nemtsov: Nein, es wurde neuerdings auch ein ähnlicher Lehrstuhl an der UCLA in Los Angeles eingerichtet, der Mickey Katz Chair for Jewish Music, der bald besetzt werden soll. Es gibt auch an der Hebrew University in Jerusalem einen Lehrstuhl für jüdische Musik mit breiter Ausrichtung. Außerdem wirken in den USA einige Professoren, die sich speziell auf liturgische Musik konzentrieren.
nmz: Wie kam es ausgerechnet jetzt zur Einrichtung dieses Lehrstuhls?
Nemtsov: Das hat mit der Gründung des Zentrums für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg zu tun, zu dem mein Lehrstuhl gehört. Im Rahmen des Zentrums wurden einige Professuren gestiftet, die an verschiedenen Universitäten in Potsdam und Berlin angesiedelt sind. Aus verschiedenen Gründen kam diese Konstruktion zustande, dass meine Professur in Thüringen beheimatet ist, aber ich auch Mitglied der School of Jewish Theology in Potsdam bin. Ich unterrichte laut Vertrag die Hälfte meines Deputats in Weimar und die andere Hälfte in Potsdam an der Universität.
nmz: Diese Professur wird durch Mittel des Bundesministeriums für Bildung und Forschung finanziert. Warum wurde sie gerade in Weimar eingerichtet? Ist es ein Ort mit spezifisch jüdischen Traditionen?
Nemtsov: Das lag unter anderem auch am Präsidenten der Weimarer Musikhochschule, Christoph Stölzl, der sich sehr für dieses Gebiet interessiert. Als beschlossen werden sollte, wohin die Professur geht, gab es verschiedene Überlegungen. Die Universität Potsdam wäre eine Möglichkeit gewesen, aber dort ist die Musikabteilung relativ bescheiden. Eine Musikhochschule erschien allen Beteiligten insofern als sehr passend, als die Musik dort nicht nur theoretisch erforscht werden, sondern auch erklingen kann. Dafür besteht dort eher die Möglichkeit als an einer Universität. Weimar besitzt eine phantastische Musikhochschule. Das Institut für Musikwissenschaft, zu dem ich gehöre, ist zudem das größte in Deutschland mit jetzt insgesamt neun Lehrstühlen. Insofern gibt es ein sehr günstiges Umfeld. Ich bin nachträglich sehr froh, dass es gerade Weimar geworden ist.
nmz: Ihr Partner ist weiterhin das Abraham-Geiger-Kolleg an der Universität Potsdam, das sich der Ausbildung von Rabbinern und jüdischen Kantoren widmet. Was sollen diese bei Ihnen lernen?
Nemtsov: Ich bin nach wie vor der akademische Studienleiter des Kantorenseminars des Abraham-Geiger- Kollegs. Wir organisieren auch gemeinsame Projekte, im kommenden Juli wird es zum Beispiel ein größeres Projekt über die Ausbildung jüdischer Kantoren geben – ein internationales Symposium mit Konzerten und Gottesdiensten in Weimar und Erfurt. Daran werden Studenten der Weimarer Musikhochschule zusammen mit den Kantoren-Studenten des Abraham-Geiger-Kollegs teilnehmen.
nmz: Die jüdischen Gemeinden in Deutschland wachsen gegenwärtig durch die enorme Zuwanderung russischer Juden. In Berlin sind etwa 70 Prozent der Gemeindemitglieder Russen.
Nemtsov: Die jüdischen Gemeinden wachsen schon lange nicht mehr, weil die Zuwanderung der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion seit Anfang 2005 nicht mehr möglich ist. Aber Sie haben recht: In manchen Gemeinden stellen russische Juden sogar bis zu 100 Prozent der Mitglieder.
nmz: Verändert dieser starke russische Akzent auch die Musik und die Liturgie der Synagogen?
Nemtsov: In den etablierten Gemeinden bislang weniger. Viel wichtiger ist, dass als Folge der russisch-jüdischen Zuwanderung viele neue Gemeinden gegründet worden sind. Dort stehen die Menschen vor der Aufgabe, den Gottesdienst zu gestalten. Die wenigsten von ihnen haben Erfahrung damit.
nmz: Und nur eine Minderheit hat ausreichende deutsche Sprachkenntnisse.
Nemtsov: Zumindest die Aktiven im Gemeindeleben haben inzwischen die deutsche Sprache gelernt. Größer ist das Problem, dass sie in ihren Heimatländern mit Religion kaum bis gar nicht verbunden waren. Sie haben also wenig Kenntnisse über die Liturgie und wenig Erfahrungen damit – das ist für sie Neuland. Es ist wichtig, dass sie erstens Hilfe von qualifizierten Fachkräften bekommen, wie sie jetzt etwa am Abraham-Geiger-Kolleg ausgebildet werden, und zweitens, dass sie auch selber die Gottesdienste bewusster gestalten und verstehen, was da passiert.
nmz: Sie richten sich mit Ihren Lehrveranstaltungen auch an normale Musikstudenten. Was wollen Sie denen beibringen?
Nemtsov: In Weimar sind in meinen Kursen ausschließlich normale Musikstudenten. Die Kantorenstudenten fahren nicht von Potsdam nach Weimar, sondern gehen zu meinen Lehrveranstaltungen an der Universität Potsdam. In Weimar sind es Studenten aus verschiedenen Studiengängen: Musikwissenschaftler, Schulmusiker, Instrumentalisten und Jazzmusiker bunt gemischt. Es gibt außerdem etliche Gasthörer. Das sind alles Menschen, die nicht nur etwas über jüdische Musik im engeren Sinne erfahren wollen, sondern auch über das Judentum im Allgemeinen. Es ist eine wichtige Aufgabe für mich, ihnen die jüdische Kultur generell näherzubringen, ein Verständnis für diese ganze Kultur zu entwickeln und nicht nur für einzelne Werke, einzelne Komponisten oder einzelne Gattungen. Daher versuche ich die Sache möglichst breit anzugehen. Ich glaube, dass das eine wichtige Aufgabe ist, denn in Deutschland beschäftigten sich mit jüdischer Kultur oft Menschen, die vom Judentum nicht so viel Ahnung hatten. In dieser Hinsicht habe ich einen gewissen Vorteil, weil ich wirklich aus der jüdischen Kultur komme und so imstande bin, jüdische Musik in diesem breiten kulturellen Kontext zu präsentieren.
nmz: Es ist wahrscheinlich kein eigener Studiengang, sondern eine Reihe von Zusatzveranstaltungen im Fach Musikwissenschaft.
Nemtsov: Das ist in verschiedene Module integriert, das heißt die meisten Studierenden der Hochschule können diese Veranstaltungen belegen. Wir überlegen jetzt, einen Schwerpunkt Jüdische Musik innerhalb der Musikwissenschaft zu entwickeln. Das scheint mir realistischer zu sein als ein eigener Studiengang, den ich auch nicht unbedingt für notwendig halte. In Weimar haben wir ja auch andere Schwerpunkte wie zum Beispiel Geschichte des Jazz oder Transcultural Music Studies. Entsprechend könnte es auch einen Schwerpunkt Jüdische Musik geben.
nmz: Ihr Lehrstuhl befindet sich in der Altenburg, die als Wohnsitz von Franz Liszt früher einmal ein internationaler Treffpunkt war. Spielt diese Tradition für Sie eine Rolle, wird sie vielleicht Ihre Arbeit beeinflussen?
Nemtsov: Ich bin nicht so unbescheiden und möchte mich nicht als einen Nachfolger Franz Liszts sehen oder quasi in dessen Fußstapfen treten, nur weil unsere Räume in der Altenburg sind. Aber ich glaube doch, dass dieser kulturelle Geist, der in Weimar herrscht, für unsere Arbeit wichtig ist. Einige Jahrhunderte der Hochkultur und die vielen genialen Menschen, die in Weimar gewirkt haben, kann man nicht ausblenden, egal auf welchem Gebiet man arbeitet. Das ist auch für unsere Arbeit förderlich, auch wenn die jüdische Musik dort bisher nicht vertreten war. Wenn wir aber schon über Liszt sprechen, dann muss man auch vermerken, dass er großes Interesse für jüdische Musik und für das Judentum hatte und in seinem berühmten Buch über die Zigeuner ein ganzes Kapitel den Juden gewidmet hat. Er hat auch sehr positiv über den berühmten Wiener jüdischen Kantor Salomon Sulzer geschrieben und wie sehr er von Synagogengesängen beeindruckt war. Liszt war also der jüdischen Musik sehr zugeneigt.