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Mit vollem Erfolg gestartet: das Landesjugendensemble Neue Musik Berlin. Foto: Lukas Steinbrecher
Mit vollem Erfolg gestartet: das Landesjugendensemble Neue Musik Berlin. Foto: Lukas Steinbrecher
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Neue und nagelneue Neue Musik

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Zum Gründungskonzert des Landesjugendensembles Neue Musik Berlin im Konzerthaus Berlin am 10. Mai 2013
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Sechs junge Menschen sitzen an einem langen Tisch. Der Tisch ist schwarz verkleidet, die Damen und Herren sind es auch. Ernst sitzen sie da und sagen kein Wort. Erst nach einer Weile, das Publikum braucht seine Zeit, um diese Situation zuzulassen, erst nach einer Weile sind Geräusche zu vernehmen. Man weiß nicht, woher sie kommen. Von Maschinen unter dem Tisch, aus den geschlossenen Mündern? Und um was handelt es sich eigentlich bei diesem leisen, diffusen Anfang, bei dieser Unbestimmtheit, die dann mehr und mehr zu einer Gesten- und Geräuschperformance wird, mit stumm offen stehenden Mündern und verrenkten Hälsen, mit Schnipsen, Schnalzen und Klatschen, das schließlich zu einer vehementen rhythmischen Demo wird?

Es handelt sich um Francesco Filideis Werk „I funerali dell‘anarchico Serantini“, aufgeführt durch Mitglieder des Landesjugendensembles Neue Musik Berlin. Und es bleibt so dramatisch, so heftig, so mitreißend und so konkret im sinnlichen Detail – nicht nur bei diesem Stück.

Das ganze Konzert, das die 37 jungen Musikerinnen und Musiker am 10. Mai im Konzerthaus Berlin zur Etablierung eines neuen Ensembles des Landesmusikrates Berlin gegeben haben, ist ein eindrucksvoller Ausweis von musikalischer Klasse, Konzentration und Freiheit. Gerhard Scherer und Jobst Liebrecht, die als sich abwechselnde Dirigenten fungieren und als künstlerische Leiter die Gründung dieses tollen Ensembles verantworten, sind auch bei der Programmgestaltung offensichtlich von diesen Prinzipien getrieben worden. Außerdem dient dieses erste Konzert auch der pädagogischen Initiation des Ensembles und seines Publikums in die Traditionen der Neuen Musik. Es gibt sozusagen alte Neue Musik und nagelneue Neue Musik.

So kommt mit Hindemiths „Kammermusik Nr. 1“ ein über 90 Jahre altes Fanal des Aufbruchs in die Moderne zu Gehör und mit Luigi Nonos „Polifonica, Monodia, Ritmica“ ein echter Klassiker der Seriellen Musik. Auch in den Umbaupausen, die Scherer und Liebrecht zu charmanten und informativen Conferencen nutzen, kommen die beiden immer wieder auf musikhistorische Bezüge und interessante Details der einzelnen Werke zu sprechen. Dabei ist aber keine Didaktik zu spüren, sondern Begeisterung und Liebe für die ausgewählte Musik, für dieses Projekt und für die fantastischen jungen Musiker. Lorenz Dangel, dessen „Musica Distillata“ den Abend in einer schönen Balance aus Schmissigkeit und Nuanciertheit als Uraufführung eröffnete, zollt den Ensemblemitgliedern größten Respekt: „Hätte ich mit 14 schon so gut Neue Musik gespielt, wäre ich heute ganz woanders!“

Und dabei darf Dangel durchaus zufrieden sein, da, wo er sich befindet. Immerhin hat er im letzten Jahr einen deutschen Filmpreis für seine Musik zu „Hell“ erhalten. Auch bei der zweiten Uraufführung, dem „Konzert für Vierzehn“ von Friedrich Schenker, zeigte sich die Vehemenz, die sowohl im Werk wie auch in der Jugend steckt, die es interpretierte.

Gerhard Scherer macht keinen Hehl daraus, dass die Programmauswahl Kopfzerbrechen gemacht hat und dass sie schließlich aber keine Angst mehr vor vermeintlich und tatsächlich schwierigen Stücken gehabt hätten. Auch eine Violinistin gibt zu, man sei sich noch bei den letzten Proben nicht sicher gewesen, dass die Stücke so gut gelingen würden.

Es war aber am Konzertabend nicht nur musikalisch, sondern auch atmosphärisch und visuell jederzeit wahrnehmbar, dass hier Musikerinnen und Musiker mit Eifer, Ernst und Anstrengung agieren, aber auch mit großer Freude an den unterschiedlichen Herausforderungen und mit sichtlichem Vergnügen am Zusammenspiel und der Resonanz des Publikums. Wie es Gerhard Scherer gelang, in den beiden zum Programm gleichberechtigt gehörenden Orchester-Improvisationen die Lebendigkeit kontrolliert zu wecken und dann sich frei entfalten zu lassen beziehungsweise wie es Jobst Liebrecht gelang, die Strenge Nonos durch seine Mitstreiterinnen und -streiter in spannungsgeladener Intensität zu halten, ist schlicht bewundernswert. Noch mehr, dass sie immer wieder zur Seite traten und den herzlichen, langen Applaus auf das Ensemble regnen ließen.

Wie ausgereift ein Stück wirken kann, wird am Schluss an Hindemiths Kammermusik demonstriert. Man merkt, dass, wie Jobst Liebrecht sagt, viele Jugend-musiziert-Preisträger besonders gerne in Neue-Musik-Ensembles spielen, weil die Einzelstimmen in ihnen so große Beachtung finden. In der Tat kommen alle Individuen prima zur Geltung. Auch hier Freiheit und Konzentration. Das ist es, was den Abend im gänzlich gefüllten Werner-Otto-Saal des Berliner Konzerthauses so bemerkenswert macht: dass man die ganze Bandbreite der Neuen Musik vorgeführt bekommt, besonders talentierte Individuen erleben kann und eine Gruppe von jungen Menschen, die in ständig wechselnden Konstellationen immer wieder neu aufeinander eingehen können. Dabei wird man in den Improvisationen und auch ein wenig im eingangs beschriebenen Filidei-Stück auch Zeuge des Entstehens einer Musik. Langsam lässt die Unsicherheit der Performerinnen und Performer nach, das nervöse Blicken auf die komplizierte Notation oder der suchende Blick zum Dirigenten, der sich bereits in die erste Zuschauerreihe verabschiedet hat und mit jedem Grad der Freiheit wächst die Sicherheit und mit jedem Grad der Sicherheit die Intensität.

Es ist dem Landesmusikrat Berlin, der dieses Projekt ins Leben gerufen hat, und dem Ensemble zu wünschen, dass dieses sich fest etabliert in Berlin, das ja durchaus Heimat vieler zeitgenössischer Komponisten ist und in seine rege Szene Neuer Musik nun auch den Nachwuchs einbeziehen kann. Nicht nur, weil es ohnehin an der Zeit ist, dass Musik, die auf eine hundert Jahre alte Tradition zurückblicken kann, auch eine institutionelle Verankerung in der musikalischen Pädagogik Berlins findet, nicht nur, weil damit Gerhard Scherer und Jobst Lieb-recht endlich die Anerkennung finden würden, die sie mit ihrem Engagement für Neue und zeitgenössische Musik schon seit Jahren verdient haben. Gerhard Scherer war bei der Klangwerkstatt und beim Ensemble Experimente federführend und ist seit über zehn Jahren der Leiter der neuköllner originaltöne; Jobst Liebrecht hat seit 2006 mit dem Jugendsinfonieorchester Marzahn-Hellersdorf immer wieder Uraufführungen unternommen und programmatische Projekte zur Neuen Musik lanciert. Nicht zuletzt ist Beständigkeit aber vor allem zu wünschen, weil die jungen Musiker und Musikerinnen es sich selbst und ihren Enthusiasmus verdient haben – und weil dieses Ensemble auch bei den Zuhörern sehr viel Vergnügen und Neugier auf die Zukunft hervorruft!

Die nächste Probenphase beginnt Ende Juli und das nächste Konzert ist für den 28. September in der Deutschen Oper Berlin vorgesehen. Auf dem Programm steht dann unter anderem die posthume Uraufführung von Hans Werner Henzes Suite zu seiner letzten Oper „Gisela!“, die er für das Vorbild der Berliner Unternehmung, das Landesjugendensemble für Neue Musik NRW, geschrieben hatte. Es werden noch Musikerinnen und Musiker gesucht. Kontakt: jobst.liebrecht [at] web.de (jobst[dot]liebrecht[at]web[dot]de) und gerhardscherer [at] aol.com (gerhardscherer[at]aol[dot]com)

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