Feinde, Brände und Unwetter haben die Türmer seit dem Mittelalter gemeldet. Dadurch wurden sie zu wichtigen Mitgliedern der Gemeinschaft. In der protestantischen Tradition war es üblich, Choräle vom Turm zu blasen – kleine Momente des Innehaltens für die Bürger und kleine Momente der täglichen persönlichen Andacht. An der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis wurde nun erstmals in der über 300-jährigen Tradition des täglichen Turmblasens eine Frau zur neuen Türmerin bestellt.

Neele Fokken, die Frau im Amt des Türmers an der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis. Sie weiß: „Jeder kann mich jetzt hören.“ © D. Leltschuk / St. Michaelis
Notentreu dem Wind trotzen – Neele Fokken ist neue Türmerin der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis
„Schwindelfrei muss man schon sein“, sagt Neele Fokken, die vor einigen Tagen das Amt der „Türmerin“ in der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis angetreten hat. Sie ist die erste Frau, die dieses Amt am Michel, wie die Hamburger liebevoll Ihr städtisches Wahrzeichen nennen, antritt. Seit mehr als 300 Jahren wird hier täglich vom Turm der Kirche mit der Trompete ein evangelischer Choral in alle vier Himmelsrichtungen – quasi über die Stadt hin – geblasen.
Die Tradition des Türmers war in ihren Anfängen eine für die städtische Gemeinschaft existenzielle Aufgabe. Von den höchsten Türmen der Stadt (z. B. Kirche, Stadtmauer, Burg) herab gab der Türmer, der von seinem Arbeitsplatz eine grandiose Weitsicht über die Stadt hatte, ein Signal, wenn sich Gefahren abzeichneten. Hierbei konnte es sich um Gefahren von außen handeln, wie etwa Soldaten oder Plünderer, die die Stadt angreifen wollten. Im Inneren gehörte in erster Linie die Meldung von Bränden zu den Aufgaben der Türmer. Viele Türmer wohnten auch in ihren Türmen, unter anderem um diese ständige Brandaufsicht zu gewährleisten. Als Signalinstrumente dienten ihnen dazu das Wächterhorn, eine Glocke oder Signalflaggen. In der Dunkelheit kamen auch Lampen zum Einsatz.
Schon die erste St.-Michaelis-Kirche, die von 1647 bis 1669 gebaut worden war, hatte einen Türmer. Diese erste Kirche am heutigen Platz wurde 1750 durch einen Blitzschlag zerstört. Am 10. März wurde die Kirche gegen 11 Uhr vom Blitz getroffen, der Brand aber erst gegen 12:45 Uhr entdeckt – da aber war es bereits zu spät: „Der Hauptteil des Turmes fiel auf das Kirchendach und setzt das Gotteshaus in Brand, das dadurch völlig vernichtet wurde.“ Im Hinblick auf die Wichtigkeit der Arbeit des Türmers wurde sehr schnell auf dem nahe gelegenen Großneumarkt ein etwa 20 Meter hoher Glockenturm aus Holz errichtet. Von dort aus blies der Türmer bis er dann wieder seinen Dienst von der neuerbauten Kirche her ausüben konnte. Bis zur Aufhebung der Torsperre zum 1. Januar 1861 war der Trompetenchoral auch das Zeichen für Öffnung und Schließung der Stadttore.
Choralblasen
In der Zeit der Reformation kam die rein protestantische Tradition auf, in die Fokken nun eingetreten ist. Diese Tradition des täglichen Choralblasens wird an St. Michaelis – und das ist weltweit einmalig – seit über 300 Jahren ununterbrochen gepflegt. An normalen Wochentagen wird um 10 Uhr und um 21 Uhr geblasen, an Sonntagen nur einmal um 12 Uhr mittags. Derselbe Choral wird dabei hintereinander viermal geblasen – in jede Himmelsrichtung einmal. Als Fundus dient hierbei das Evangelische Gesangbuch – besser: die dort verzeichneten Choräle der Reformationszeit, das Lied- und Kulturgut, das vor wenigen Jahren in die Liste des immateriellen Welterbes aufgenommen worden ist. Geistliche Volks- und Kinderlieder (z. B. „Ihr Kinderlein, kommet“) oder moderne Choräle (z. B. „Danke“) kann sich Fokken eher nicht vorstellen.

Die grandiose Aussicht vom Turm der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis. Die Dächer über die Neele Fokken ihre Choräle hinwegbläst. © D. Leltschuk / St. Michaelis
Durch das Blasen in jede der vier Himmelsrichtungen kann quasi jedermann in Hamburg den Choral hören. Das war religiös genauer gesagt kirchlich wichtig, denn der Choral bot für die Bürger einen Moment der spirituellen Erinnerung an etwas, was in dem Choral „Nun jauchzt dem Herren alle Welt“ des Lieddichters Cornelius Becker aus dem Jahr 1602 mit den Worten „Gott loben, das ist unser Amt“ beschrieben wird. So konnte der Choral zuhause oder unterwegs auf der Straße mitgesungen und mitgebetet werden. Letztlich stellte er eine Form der musikalischen Predigt dar. Natürlich galt und gilt der Choral auch den Seeleuten im nahegelegenen Hafen, Gott dafür zu danken, dass sie wieder einen sicheren Hafen erreicht hatten.
Die 27-jährige Fokken kommt ursprünglich aus Ostfriesland. Dort hat sie schon früh Trompete gespielt und war Mitglied des evangelischen Posaunenchores. Diesen hat sie als sehr „gemeinschaftsbildend“ wahrgenommen. Man machte mit Menschen unterschiedlicher beruflicher und sozialer Herkunft und unterschiedlichen Alters gemeinsam Musik – Menschen, die man vielleicht außerhalb des Posaunenchores nicht kennengelernt hätte. Das war für sie sehr beeindruckend.
Gotteslohn?
Nach Hamburg ist sie gekommen, um Trompete, Kulturmanagement und Grundschullehramt zu studieren. Derzeit unterrichtet sie an der staatlichen Musikschule und gibt an einer Hamburger Grundschule Trompeten- und Musikunterricht. Dieses finanzielle Standbein benötigt sie sicher auch – denn die Türmertätigkeit war von alters her nicht allzugut bezahlt, berichtet Johannes Thier, der sich Zunftmeister der „Europäischen Nachtwächter- und Türmerzunft“.
Für die früheren Arbeitgeber war ein Teil des Honorars bereits damit abgegolten, dass die Türmer und ihre Familien kostenfrei auf den Türmen wohnen durften. Manchen Türmern wurde erlaubt, nebenher noch die Musik bei Hochzeiten und Beerdigungen zu übernehmen und sich damit etwas dazuzuverdienen. In manchen Gegenden bekam der Türmer nur einmal jährlich – zu Beginn des Kirchenjahres – seinen Lohn oder musste sich einen Teil seines Lohnes mit einer Büchse bei den Gemeindemitgliedern erbitten. Auch galt im Mittelalter der Beruf des Türmers als „ehrlos“ und gehörte, wie z. B. auch Schäfer, Müller, Bader, Leineweber oder Barbiere, zu den „unehrlichen“ Berufen.
Der freundlichste Kollege der Welt
Am Michel gibt es zwei Türmer, die sich die Arbeit teilen. Horst Huhn und Josef Thöne, zwei alte Studienkollegen, haben 1992 gemeinsam den Dienst angetreten, im Jahr 2022 ihr 30-jähriges Dienstjubiläum gefeiert. 2024 ist Huhn dann in den wohlverdienten Ruhestand gegangen. „Wenn man Trompete spielt, dann kennt man sich unter den Trompetern – und so hat mich Josef Thöne angesprochen, ob das nicht eine Aufgabe für mich wäre“, berichtet Fokken über ihre allerersten Kontakte zur Türmerei. Natürlich gab es ein ordentliches Auswahlverfahren, sie musste vorspielen, auch andere Kollegen hatten sich beworben. Letztlich hat sie im Mai 2024 ihren Dienst angetreten. In der Weihnachtszeit war die Probezeit vorbei, nun wurde sie in ihr Amt offiziell eingeführt.

Die beiden Türmer, Neele Fokken und ihr Kollege Josef Thöne, in schwindelnder Höhe auf „ihrem“ Turm der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis. © D. Leltschuk / St. Michaelis
„Ich bin dankbar für das Vertrauen, dass ich diese lange Tradition weiterführen darf. Die Beständigkeit, die dieses kulturelle Erbe ausstrahlt, beeindruckt mich sehr und es freut mich jedes Mal, wenn ich auf dem Turm den Choral blasen darf“, sagt Fokken. Heute teilt sie sich den Dienst, den die Michelstiftung regelmäßig bezahlt, mit Josef Thöne; jeder hat zwischen 20 und 30 Einsätzen pro Monat. Fokken bezeichnet Thöne als den „freundlichsten Kollegen der Welt“, der gern hilft und seine Erfahrungen an sie weitergibt – etwa bei der Auswahl der Lieder: Nach Tages- und Kirchenjahreszeit, aber so, dass es für die Nachbarn nicht langweilig wird. Wenn einer der Pastoren oder der Kirchenmusiker am Michel Geburtstag hat, wird „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“ gespielt.
„Jedes Solo ist eine Herausforderung. Beim Choralblasen auf dem Turm des Michels blase ich viermal hintereinander ein Solo in jede der Himmelsrichtungen“, sagt Fokken. Dabei „hört einen jeder“ – oft stehen viele Touristen am Fuße des Turms. Deswegen ist es für sie eine große Herausforderung, diese Arbeit verlässlich, gut und möglichst fehlerfrei – fast ein wenig perfektionistisch – abzuliefern. Dabei ist diese Arbeit immer anders, denn mancherlei äußere Umstände beeinflussen das Ergebnis, wie etwa der Wind. „Da muss man schon anders in die Trompete hineinblasen und dem Wund trotzen können.“ Wind gibt es in Hamburg ausreichend – kräftiger blasen, nicht kieksen, jeden Ton treffen – das ist schon eine Herausforderung. Das sind auch für Zunftmeister Thier die wichtigsten Merkmale eines guten Choralblasens – „notentreu“ nennt er das. Aber für ihn ist es auch wichtig, die Tradition der Türmerei zu erhalten, nicht die Asche an die nächsten Generationen weiterzugeben, sondern das Feuer am Brennen zu erhalten.
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