Zum Konzentrationslager Sachsenhausen gehörte ab 1943 auch ein Außenlager der Heinkel-Werke Oranienburg, wo Flugzeuge für die Luftwaffe hergestellt wurden. Im September 1944 wurden hier mehr als 2.000 niederländische Häftlinge eingeliefert, unter ihnen der Musikwissenschaftler und Komponist Marius Flothuis, den die Gestapo ein Jahr zuvor wegen illegaler Konzerte und Hilfe für untergetauchte jüdische Künstler verhaftet hatte.
Flothuis, am 30. Oktober 1914 in Amsterdam geboren, war 1937 Programm-Assistent beim Concertgebouw-Orchester geworden. Unter der deutschen Besatzung der Niederlande verweigerte er die Mitgliedschaft in der Reichskulturkammer, weil seine Ehefrau aus einer jüdischen Familie stammte und er selbst nicht seine Loyalität zur Besatzungsmacht erklären wollte. Wegen dieser Weigerung verlor er seine Stelle und führte ein Leben an der Grenze zur Illegalität: Er versteckte Juden und organisierte Konzerte für die Widerstandsbewegung. Im September 1943 wurde Flothuis verraten, festgenommen und ins Konzentrationslager Vught (Herzogenbusch) gebracht. Beim Herannahen der Alliierten wurde dieses Lager ein Jahr später evakuiert, die Häftlinge wurden nach Sachsenhausen überführt.
Auch dieses KZ wurde geräumt, als am 21. April 1945 die Rote Armee nur noch wenige Kilometer entfernt war. Mit vielen anderen Häftlingen marschierte Flothuis bis Schwerin, wo ihn Sowjetsoldaten befreiten. Ende Mai durfte er in seine Heimat zurückkehren. Nach einer schwierigen Übergangszeit erhielt er acht Jahre später wieder eine Stelle beim Concertgebouw-Orchester, ab 1955 die des Künstlerischen Leiters. Fast zwanzig Jahre lang hat Marius Flothuis in dieser Position das Musikleben der Niederlande geprägt, bevor er sich als Professor in Utrecht der Mozartforschung widmete. 1980 bis 1994 leitete er das Zentral-Institut für Mozart-Forschung in Salzburg. Flothuis, der Musik auch politisch verstand und die Deutschen nie pauschal als Nazis abtat, erinnerte gern daran, dass Auschwitz an Mozarts Geburtstag befreit wurde.
In Erinnerung an seinen wichtigsten Künstlerischen Leiter veranstaltete das Concertgebouw-Orchester zu dessen 100. Geburtstag Gedenkkonzerte in Amsterdam, Vught und Sachsenhausen. Dabei kamen auch Werke von Marius Flothuis zur Aufführung. Obwohl er schon als Schüler komponiert und Musiktheorie bei Hans Brandts Buys studiert hatte, war er als Komponist weitgehend Autodidakt. Als Sohn eines Deutschlehrers war er mit deutscher Literatur und Musik aufgewachsen. Seine Lieblingskomponisten waren Monteverdi, Mozart, Schubert und Debussy. Die „Aubade“ für Flöte solo op. 19a, die Flothuis im April 1944 im Lager Vught für einen Mithäftling schrieb, verrät Debussy-Nähe. Das Konzert im Neuen Museum der Gedenkstätte Sachsenhausen begann nach Ansprachen von Günter Morsch sowie der niederländischen Botschafterin Monica van Daalen mit diesem Flötensolo (gespielt von Kersten McCall), das bruchlos in die großbogige Harfenkomposition „Pour le tombeau d’Orphée“ op. 37 (klangvoll: Petra van der Heide) überging. Die Figur des Orpheus hatte Flothuis schon als Schüler fasziniert, verkörperte sie für ihn doch den Wunsch, das Unwiederbringliche wieder zu erringen. Vielleicht sah er sich in den deutschen Konzentrationslagern selbst als eine Art Orpheus. Denn neben der Zwangsarbeit im Heinkel-Lager hat Flothuis komponiert (seine Opera 23 und 24) und Klavierabende gegeben. Nach Auskunft der Musikwissenschaftlerin Juliane Brauer war er der einzige professionelle Komponist im KZ Sachsenhausen, der auch hier schöpferisch tätig war.
Marius Flothuis hat insgesamt über 100 Werke komponiert. Neben Vokalmusik (u.a. nach Texten von Chris-tian Morgenstern, Rosa Luxemburg, Ernst Toller und Peter Huchel) dominiert Kammermusik. Sein fünfsätziges Streichquartett op. 44, das Mitglieder des Concertgebouw-Orchesters einen Tag nach seinem 100. Geburtstag in Sachsenhausen spielten, verbindet klassische Formen mit impressionistischen Farbwirkungen. Das Lento mündete ein in eine ausdrucksvolle Fuge, während die beiden Schlusssätze fast Mozart’sche Heiterkeit versprühten.
Zu Marius Flothuis passte auch die idyllische Sonate für Flöte, Viola und Harfe, die Claude Debussy 1915 dem Grauen des Weltkriegs entgegenstellte. Zu Ehren des Mozart-Forschers Flot-huis erklang dann das grandiose Klarinettenquintett KV 581 (mit Olivier Patey an der Klarinette), bevor bei Maurice Ravels „Introduktion und Allegro“ op. 46 alle sieben Concertgebouw-Musiker zu fast orchestraler Klangpracht zusammentraten.
Ein Konzert dieses Ranges dürfte man an diesem Ort wohl nur selten erleben.