Alles schon gemacht und getan, gedacht und geschrieben, gesehen und gehört, das x-te Mal das Rad neu erfunden. Nicht selten ertappt man sich dabei, in diesen skeptizistischen Tenor einzustimmen, der das Vertrauen ins Innovationspotenzial von Gegenwartskomposition seit längerem in Frage stellt, auch wenn derartige Verdikte im Grunde auf einem in die Jahre gekommenen Fortschrittsbegriff fußen. Allen Unkenrufen zum Trotz müht sich auch die musikalische Kunst doch immer neu und anders voran, wenn auch weniger mit neuen Materialversprechen als den aktuellen Verheißungen und Möglichkeiten digitaler Transformation und Kontextualisierung.
Zu den auffallendsten Persönlichkeiten zeitgenössischer Komposition, deren Schaffen sich von solchen Negativbildern erfrischend wenig beeindrucken lässt, zählt die 1983 in Rom geborene und derzeit in Berlin lebende Clara Iannotta. Im unerschütterlichen Willen dem Verborgenen eine Gestalt abzuringen, verdichten sich bei Iannotta Experimentierlust, Forscherdrang und Erfindergeist zu einem Klanglaboratorium, das so manch staunenswerte Ergebnisse hervorgebracht hat und von dem man nie genau weiß, was da in Zukunft noch entstehen oder aufeinander reagieren wird. Hybride Räume aus Instrumentalklang und Elektronik knüpfen im Zwischenreich von Ton und Geräusch an Traditionen experimenteller Instrumentalbehandlung an und generieren dennoch erstaunlich neuartige Oberflächen, Tiefenperspektiven und Zusammenhänge. Nichts könnte dies eindringlicher veranschaulichen als Iannottas Beiträge in einer Gattung, von der man glauben könnte, dort sei nun wirklich Alles schon einmal auf höchstem zirzensischen Niveau erzählt und ausprobiert worden.
Ihr aktueller Streichquartettzyklus mit den Stücken „dead wasps in the jam-jar (iii)“ (2017/18), „Earthing – dead wasps (obituary)“ (2019) und „You crawl over seas of granite“ (2019/20, siehe auch S. 11) sondiert vermittels Präparationen, Skordaturen, Verstärkung und elektronischen Erweiterungen die Tiefen des Klangs und seiner Artikulationen. In der scheinbaren Regungslosigkeit ihrer Bewegung entwickeln die einzelnen Beiträge einen mikroskopischen Reichtum des Klanglichen, der sich dennoch dem Ornament komplett verweigert. Es gibt nichts Überflüssiges in Clara Iannottas Musik, die aus allmählichen Texturveränderungen immer wieder andere, überraschende Gestaltbildungen gewinnt: „Ich fange an, in meiner Musik die Hüllen abzulegen. Ich will nichts mehr verstecken oder verschnörkeln. Ich insistiere auf die Energie selbst und nicht auf das, was sie reflektiert.“
Dass die Gestaltung von Musik in der Konzentration auf ihre Substanzen und deren Hervorbringung eine unmittelbar existentielle und physische Erfahrung bereithält, ist ein wesentlicher Gedanke in Clara Iannottas Ästhetik, der anknüpft an den Geist von Helmut Lachenmanns „Musique concrète instrumentale“. Dabei geht es auch Iannotta weniger um die Verarbeitung konkreter außermusikalischer Wirklichkeiten, als um eine Art Selbstbefragung in Klängen: „Komponieren ist für mich eine innere und persönliche Erkundung. (...) Eine Art und Weise mich selbst zu entdecken, so tief wie möglich abzutauchen, dabei Orte entdeckend, denen ich mir nicht sicher bin oder noch nicht bereit, sie ganz zu entschlüsseln. Es ist die Erkundung meiner eigenen Intimität und ich bin dabei an den instabilen Klängen interessiert, weil sie manchmal so zerbrechlich sein können, dass die physische Geste, sie zu produzieren, eine eigene neue Wichtigkeit gewinnt, fast als müsste ich dem Klang eine visuelle Komponente geben, um ihn vollständig zu verstehen.“ Derartige Manifestationen des Instabilen haben zur Folge, dass die Klangverläufe im Produktionsvorgang nie hundertprozentig lenkbar sind und bei jeder Aufführung Unerwartetes offenbaren. So wie Iannotta sich im wirklichen Leben vorschnellen ästhetischen, sozialen und geschlechtlichen Kategorisierungen verweigert, negiert sie auch beim Komponieren eine abrufbare Systematik, die standardisierte Ergebnisse produziert: „Als Künstlerin bin ich hingezogen zur Unwirtlichkeit, zum Schmutz, dem Imperfekten, zu allem, was man nicht wirklich kontrollieren kann. (…) Ich denke, es ist gerade dieser Einbruch der Unvollkommenheit, der meine Klangräume lebendig macht.“
Multi-sensorische Erfahrung
Auch wenn Clara Iannottas Stücke ganz unmittelbar vom Klang und seinen sinnlichen Ressourcen her gedacht sind, ist der visuelle Anteil klanglicher Produktion für sie von elementarer Wichtigkeit: „Seitdem ich anfing Komposition zu studieren, war ich fasziniert von der Idee von Musik als einer multi-sensorischen Erfahrung. Um ein vollständiges Verständnis von einem Klang zu haben, braucht das Ohr die Unterstützung des Auges. Wie wird das Visuelle Musik und umgekehrt?“ Aus dieser Fragestellung erwachsen regelmäßig interdisziplinäre Kooperationen, die Aspekte von Installation und Performance, Klang, Licht und Bewegung miteinander in Beziehung setzen. Unter der Prämisse, ein Gebilde zu schaffen, indem Visuelles und Akustisches eine untrennbare Einheit bilden, entstand in Zusammenarbeit mit der Architektin und Lichtkünstlerin Anna Kubelik „skull ark, upturned with no mast“ (2017/18): eine audiovisuelle Bühneninstallation aus Schnüren und Metallstäben, in deren sperrigen Verstrebungen die Musiker wie gefangen agieren, um darin sphärische oder geräuschhaft aufgeraute Lebenszeichen zu produzieren – ein ambivalentes Gefüge, in dem Sichtbarkeit und Verborgenheit, Isolation und Interaktion, Licht und Dunkel sich in ständigem Austausch befinden. Eine vergleichbare Idee verbindet Iannotta mit der Licht-Designerin Eva G. Alonso: In „Untitled #1“ begegnen sich Lichtchoreografien und vibrierende Drones im Klavier. Hier wie auch in „Eclipse Plumage“ für Klavier und Ensemble (2019) kommt die von Iannotta selbst entworfene „Antimachine“ (eine Art kreisender E-Bow) zum Einsatz, die im Inneren des Klavieres die Saiten durch Magnetfelder in dauerhafte Schwingung versetzt.
Phänomene und Assoziationen aus der Sphäre der Natur können ebenfalls einen Startimpuls für Iannottas Klangdenken auslösen, manchmal im Sinne vager atmosphärischer Beziehungen, öfter im Sinne struktureller Analogien: So hat die Komponistin die opaken Klanggründe ihrer jüngsten Streichquartette mit ihrer Affinität zu den Erscheinungen der Tiefsee in Verbindung gebracht. Für die Formung der Klangschichten im Orchesterstück „MOULT“ (2018/19), die einer temporären Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart entsprechen, wurde Iannotta angeregt durch das Prinzip der Häutung bei Spinnen. Aber auch das geschriebene Wort ist als Inspirationsquelle unübersehbar: Eine besondere Bedeutung fürs Komponieren Clara Iannottas haben die Texte der irischen Dichterin Dorothy Molloy, deren Verse Pate standen für so einige suggestiv-verschrobene Stücktitel: „dead wasps in a jam-jar“, „skull ark, upturned with no mast“, „Troglodyte Angels Clank By“, „paw-marks in wet cement“. Derartige Referenzen verweisen allerdings nicht auf anschließende Vertonung, ja nicht mal auf klangliche Übersetzungen partieller Inhalte und lyrischer Bilder, sondern markieren eine eher indifferente Stimulanz, die durch die Atmosphäre der Texte ausgelöst wird und bewusst im Unklaren und Absurden verbleibt. In „paw-marks in wet cement“ für Klavier und Ensemble (2015–18) spielt sich die Poesie einer Gestaltwerdung des Absichtslosen und Flüchtigen im Medium dünnhäutiger Klangtexturen ab, die nur noch ganz entfernt an das Format eines „Klavierkonzertes“ erinnern. Besonders vielschichtig und farbintensiv zeigen sich Iannottas Klangräume in den größer besetzten Ensemble- und Orchesterstücken. Das erwähnte „MOULT“ oder „they left us grief-trees wailing at the wall“ für 9 verstärkte Instrumente (2020) sind Stücke, die einen unweigerlich hineinziehen in ein vielschichtig oszillierendes Klanggewebe, das mit nicht endender Differenzierungs- und Wandlungsfähigkeit seine Aggregatzustände und Dichteverhältnisse, Konsistenzen und Oberflächen verändert. Auch in Stücken ohne Elektronik klingen die obertonreichen und unwirtlich geräuschintensiven Interaktionen als wären sie nicht rein instrumentaler Natur. Die kommenden Kompositionsaufträge versprechen in dieser Hinsicht interessante Konstellationen: So darf man sich freuen auf ein für Yaron Deutsch und Uli Fussenegger geschriebenes Stück für E-Gitarre und Kontrabass oder ein großes Orchesterstück, das Iannotta in ihrer Funktion als Composer in residence beim Orchestre national de Metz geschrieben hat und das im Oktober diesen Jahres den großen Orchesterapparat mit Elektronik konfrontieren wird.
Jenseits festgefahrener Muster
Clara Iannotta setzt aber nicht nur als Komponistin ihre Klangvorstellungen mit beeindruckender Konsequenz um, auch als Kuratorin treibt sie ihre Ideen jenseits festgefahrener Denkmuster des Betriebs voran. Seit 2014 ist sie künstlerische Leiterin der Bludenzer Tage zeitgemäßer Musik und hat dem kleinen, aber prägnanten österreichischen Festival durch konsequenten Fokus auf die Aktivitäten der jüngeren Komponistengeneration weiteres Profil verliehen. Dabei ist der Anteil an Komponistinnen auf zwischenzeitlich über 60 Prozent gestiegen, um deren immer noch vielerorts programmatischen Unterrepräsentierung entgegenzuwirken. Dennoch stehen Genderfragen bei der konzeptionellen Ausrichtung des Festivals nicht im Vordergrund: „Ich versuche nicht, politisch korrekt zu sein oder Quoten im Festival zu installieren, ich habe keine Vorliebe für Statistiken. Ich versuche einfach, in meiner besten möglichen Weise, die zeitgenössische Musik-Szene zu repräsentieren.“ Und darin beanspruchen Frauen seit einigen Jahren ein unverkennbares Gewicht, ja werden besonders interessante und mutige Positionen auffallend oft von Komponistinnen besetzt, die herzlich wenig am Festhalten eines ästhetischen Status Quo und Erfüllen von Erwartungshaltungen interessiert scheinen. Clara Iannotta jedenfalls (die sich nicht selbst programmiert!) könnte kein besseres Beispiel abgeben für eine Musik, die sich mit Vorliebe auf unsicheres Terrain begibt, um nach verborgenen Potenzialen des Klingenden zu suchen.