Anna-Lena Schnabel weiß gar nicht, wo sie anfangen soll, wenn sie nach ihren aktuellen Projekten und bedeutsamen Stationen in der nun schon langen Zeit zwischen ihrer Echo-Preisverleihung 2017 und der Gegenwart gefragt wird: „Ich fange einfach mal von jetzt rückwärts an.“ „Von jetzt“ bezeichnet bei ihr sogar die nahe Zukunft – und diese begann im Sendesaal Bremen, wo das brandneue ECM-Album „Imaginary Circle“ unter Federführung des Pianisten Florian Weber aufgenommen wurde und im September offiziell erscheint. Für diese sphärische Musik in ungewöhnlicher Kammerbesetzung bringt Anna-Lena Schnabel auch wieder die Querflöte solistisch zum Einsatz. Denn auch für dieses Instrument schlägt das Herz der vielseitigen Wahl-Hamburgerin, die sich in den letzten Jahren den Durchbruch in die internationale Karriere redlich erarbeitet hat.
Preisgekrönt und dann?
„Karriere“ klingt eigentlich viel zu steif für alles, was im Gespräch aus der Musikerin heraussprudelt, denn dafür fühlt sich der beschriebene Prozess viel zu menschlich und organisch an, hat mit Wachsen, Reifen und immer wieder neu geknüpften sozialen Verbindungen zu tun, in denen Musik stattfindet. Ihr Fazit: „Der ethische Aspekt von Musik, oder überhaupt der ethische Aspekt vom Leben, hat für mich viel mehr Bedeutung erlangt.“
In der kulturbedrohenden Corona-Zeit erwies sich vor allem die Lehrtätigkeit an der Musikhochschule Osnabrück als Rettungsanker und ist auch heute noch ein wirtschaftliches Standbein. Im Lockdown griff sie zur Flöte und hat sämtliche Bach-Flöten-Sonaten komplett auswendig gelernt. Grenzen zwischen Jazz, klassischer Musik und Neuer Musik gibt es bei ihr sowieso nicht, und schon ist vom Heidelberger Frühling, den Sommerlichen Musiktagen Hitzacker und ebenso vom Morgenland-Festival die Rede, einer der ernsthaftesten Adressen in Sachen musikalisch-globalem Kulturdialog. Hier stand sie mit Michel Godard, Jeff Bellard und Michel Benita auf der Bühne. Und auch beim Katara European Jazz Festival in Doha war sie als Mitglied des französischen Orchestre National de Jazz dabei.
Preisverleihungen wie der Echo im Jahr 2017 sind lange her und wirken oft wie eine Art Strohfeuer, das kurzfristig zwar sehr viel Aufmerksamkeit, Anfragen und Angebote generiert, was natürlich erfreulich und hilfreich ist. Danach ist jede und jeder wieder auf sich allein gestellt. Daran sind nicht die Preise schuld, sondern die Verhältnisse in einer kulturellen Nische, in der es naturgemäß eng ist. Eine im Jahr 2022 durchgeführte Studie von Forschern der Universität Frankfurt und der Humboldt-Universität ergab, dass weibliche Musikerinnen zwar häufiger Preise gewinnen, jedoch weniger berufliche Chancen erhalten als ihre männlichen Kollegen. Trotz ihrer Erfolge bleiben ihnen oft Festanstellungen und gut bezahlte Jobs verwehrt – da weht noch viel Gegenwind durch Ungleichheit angesichts tief verwurzelter Stereotype und unbewusster Vorurteile.
Schöpferisch sein und das Beste zu geben, bleibt also auch für Anna-Lena Schnabel ein Überlebensrezept. „Je mehr ich lerne, desto mehr kann ich auch sein und wenn man nichts macht, schläft es halt auch ganz schnell wieder ein. Ein echter Wunsch ist nur ein Wunsch, den ich mir selbst auftrage“, definiert Anna-Lena Schnabel die Formel für ihre zweifellos vorhandene Macherinnen-Qualität, die kontinuierlich reiche Früchte trägt. Gerade schreibt sie neue Stücke für eine ganz exquisite Besetzung, mit der sie am 12. Dezember in Hamburgs neuer Jazz Hall Premiere haben wird – zusammen mit Marilyn Mazur, Kavs Hofmann und Florian Weber.
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