Als ehemalige Hauptstadt der Bewegung verfiel München in der Folge dieser Folgen erst in eine Schockstarre sondergleichen, um aus Trümmern neu und dennoch stadtstrukturell erkennbar wiederzuerstehen. Mit Olympia 72 galt es, der Welt ein Bild von einem friedlichen, farbigen, freundlichen, fröhlichen, frei von Faschismus und Militarismus beweglichen Deutschland zu zeigen – was heiter zunächst gelingen wollte und doch von anderer Militanz schändlich missbraucht und ausgenutzt wurde. Mit der Folge neuerlicher Erstarrung und vom damaligen Oberbürgermeister eigenhändig gegen 21 Uhr hochgeklappten Gehsteigen.
Das änderte sich mit dem Nachfolger Christian Ude, der die Stadt wachküsste und innovative Architektur mit ermöglichte – auch unter der Obergrenze von 100 Metern Höhendimension. Ein durchaus wesentliches Element dieser Global-Eingliederung und dennoch unverwechselbaren Außenwirkung Münchens über die Postmoderne hinaus ist die Entscheidung, einen höchst zentralen Platz direkt am Herzen der Stadt, neben dem Marienplatz, der als Jakobsplatz jahrzehntelang Müllhalde mit Kinderspiel- und Autobusabstellplatz gewesen war, für das Jüdische Zentrum mit Gemeindegebäude, Museum und Synagoge einer wahrhaft sinnvollen Bestimmung mit weitreichender Bedeutung und Symbolkraft zuzuführen.
Ohne kreativ-aktive Mitwirkung der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern samt der innovativen Präsidentin Charlotte Knobloch wäre das allerdings nicht möglich geworden. Jetzt entwickelt sich im Zentrum der Stadt zusehends und akustisch vernehmbar neues kulturelles Leben. Nicht zuletzt das Orchester Jakobsplatz München gibt da einen intelligenten und vitalen Klang vor. Im aktuellen Jahrbuch für 5771 heißt es: „Das Orchester Jakobsplatz München, bestehend aus professionellen jüdischen und nichtjüdischen Musikern, will mit der universellen Sprache der Musik den Dialog fördern und zu einer Kultur des Zusammenlebens beitragen.“
Im Orchester Jakobsplatz München spielen Musiker aus 23 Ländern. Programmatisch setzt das Ensemble seinen Fokus auf selten gespielte Werke jüdischer Komponisten, kombiniert mit Musik des 20. und 21. Jahrhunderts.
Außerdem vergibt das Orchester Kompositionsaufträge mit jüdischem Bezug. Der Hubert-Burda-Saal im neuen Gemeindezentrum ist Zentrale vielfältigster Aktivitäten, von der neu etablierten, Tradition werden wollenden Veranstaltung eines jüdischen Neujahrskonzerts seit Herbst 2009 bis zu Konzertreisen, Kooperationen mit dem Bayerischen Staatsschauspiel und der Bayerischen Staatsoper, mit dem Künstlerhaus oder der Villa Stuck.
Zugleich ist hier die Startrampe für internationale Konzertreisen. Chefdirigent ist der junge Daniel Grossmann. Wie erlebt er Jüdisches in Deutschem, Deutsches in Jüdischem nach dem Irrwitz des „Tausendjährigen Reichs“?
Daniel Grossmann: Mich interessiert im Moment, auch im Hinblick auf die Arbeit mit dem Orchester, das Gegenwärtige und vor allem das Zukünftige des Judentums in Deutschland. Als deutscher Jude interessiert es mich, die deutsche Kultur in diesem Land unabhängig von Holocaust und der Hybris, welche die Juden in Deutschland erfahren haben, auf eine gegenwärtige Grundlage zu stellen. Und das ist auch das, was ich mit dem Orchester anstrebe. Wie funktioniert ein Orchester, inhaltlich jüdisch definiert, inmitten heutiger Kultur heute in Deutschland, unabhängig von der Vergangenheit? Was vollbringt es? Wir nehmen die Komponisten aus ihrer Opferrolle heraus und betrachten sie als Menschen, denen etwas Schreckliches widerfahren ist, nicht nur das Vergessen-Werden. Auf diese Musik also möchte ich den Blick, die Ohren lenken. Und nicht auf eine Rolle als Opfer des Nationalsozialismus – immer freilich im Kontext des Historischen.
neue musikzeitung: Was ist das Spezifische im deutsch-jüdischen Dialog?
Grossmann: Ich glaube, dass die jüdische Kultur eine sehr hohe Affinität zur deutschen Hochkultur hat. Schon in der Vergangenheit hieß es oft vereinfachend, Goethe und Beethoven sind in jüdischen Haushalten immer schon besondere Gottheiten gewesen. Ja, gerade auch die Verbindung zur deutschen Sprache war im Judentum immer sehr stark ausgeprägt. Folglich interessiert es mich nicht, immer nur das Judentum in Deutschland zu definieren nach dem, was war, was selbstverständlich wichtig ist und was nicht ignoriert werden kann. Sondern ich will auf dieser Basis jüdische Kultur in Deutschland schaffen, mit dem Ziel, zu zeigen, was Juden heute tun in Deutschland und was jüdische Kultur in Deutschland tut, heute – auch und gerade, wenn ich Kompositions-aufträge vergebe oder wenn ich überhaupt ein Orchester in Deutschland gründe.
nmz: Wie erlebt Daniel Grossmann, der sich musikalisch ja in direkter Zeitgenossenschaft von Nikolaus Harnoncourt, Reinhard Goebel, Jordi Savall, Philippe Herreweghe und Joshua Rifkin etwa sozialisierte, ein ritualisiertes Musikleben, das er seinerseits, nicht zuletzt im Reflex aufs Bestehende, womöglich anders gestalten möchte, auch im Kielwasser und im Windschatten von Bruno Walter und Gustav Mahler, von Herbert von Karajan, Leonard Bernstein und Georg Solti, von Gustavo Dudamel bis Mariss Jansons? Setzen Sie neu an? Geht das?
Grossmann: Ich erlebe diese Idee von Revolution in der Aufführungspraxis gelinde gesagt als eine problematische Vorstellung. Denn ich denke, ein Musiker sollte unabhängig von Tradition, von Zeit ganz ehrlich versuchen, seine Sichtweise eines Musikstückes wiederzugeben. Das ist die einzige Aufgabe eines Musikers. Man ist ja „nur“ Interpret. Und insofern versuche ich mich von derartigen Strömungen und Vorstellungen, die da als romantische oder als historische Aufführungspraxis etwa daherkommen, frei zu machen. Ich bemühe mich, eine ehrliche, eine für mich gültige Interpretation zu finden.
nmz: Gibt es Vorbilder, Persönlichkeiten, an deren Muster mit Wert – sozusagen – entlang Sie Ihre eigene Art der Musikdarstellung finden, erfinden, auch in einer Art Gegenposition?
Grossmann: Ja, es gibt sicher Vorbilder, die ich aber nicht nach Art der Eins-zu-Eins-Übernahme sehe. Ich sehe Nikolaus Harnoncourt, der nicht, wie oft fälschlich behauptet, als dogmatisch-historischer Aufführungspraktiker handelt, sondern der anhand der Noten versucht, eine für ihn gültige Aufführungsversion zu finden, von der er überzeugt ist, dass sie den Gedanken des Komponisten entspricht.
nmz: Historisch überlieferte Musik lebt ja deswegen – und für jede Generation neu – aus der Tatsache heraus, dass sie viele Auslegungen, Darstellungen, Interpretationen zulässt oder gar fordert. Aus einem zwar unveränderlichen Text heraus, der seinerseits aber trotz aller Werktreue-Beteuerungen immer wieder aufs Neue Innovationen möglich und nötig macht. Was ist für Sie die Quelle, der Urtext? Gibt es überhaupt Werktreue?
Grossmann: Nein. Ich denke, dass dieser Begriff sehr problematisch ist. Denn Werktreue impliziert, dass alles auf einem Urgedanken basiert. Und wenn es denn so wäre, dann müssten eigentlich die Komponisten beste Dirigenten ihrer Werke sein. Was bekanntlich nicht so ist. Wichtig ist es, den Urtext anzuschauen. Bei Beethoven möchte ich schon den Originaltext sehen, idealerweise auch ein Faksimile der Handschrift. Dann aber kommt irgendwann der Punkt, an dem man sich vom Notentext lösen muss, an dem man sich selber einbringen muss.
nmz: Sicher getragen vom Wissen um das, was vorher war. Sie selbst haben sogar Beethoven dirigiert an Orten, die Beethoven seinerseits schon als Dirigent benutzt hat, lässt sich vielleicht sagen. Der Authentizität wegen?
Grossmann: Das war ein Test. Ich wollte einfach an einem Ort, der praktisch noch im Originalzustand ist, einmal erleben, wie es ist, dort ein Werk aufzuführen. Das ist grauenvoll, die Akustik ist grauenvoll. Aber es ist unglaublich spannend, zu erleben, wie undogmatisch damals Musik gemacht wurde.
Und sicher hat auch Beethoven die Umstände in diesem Wiener Lobkowitz-Palais nicht gerade als optimal erlebt. Aber man hat sich einfach hingestellt in den extrem halligen kleinen Raum, um das Werk zu spielen, Beethoven damals, wir heute. Das war total spannend, aber sicher keineswegs der ideale Raum, um die Eroica aufzuführen.
Zumal mit unserem kleinen 28-Mann/Frau-Orchester. Auch Beethoven konnte da freilich nicht aus einem größeren „Vollen“ schöpfen ... Als Dirigent oder als Interpret tut unsereiner immer gut daran, sich mit der Herkunft, mit der Biographie zu beschäftigen, mit dem gedanklichen Umfeld. Und mit dem objektiven Notentext zumal. Daraus aber folgere ich wirklich, dass dann sehr bald der Punkt kommen muss, ab dem man sehr persönlich werden muss. Sonst nämlich wird aus alledem eine rein musikwissenschaftliche Aufführung. Folglich kann Beethoven gleichermaßen gut in Asien und in Wien aufgeführt werden.
nmz: Wie kam es zur Gründung des Orchesters Jakobsplatz München?
Grossmann: Ja, das ist etwas, was mich jahrelang beschäftigt hat. Rund um dieses Jüdische Zentrum in der Mitte von München sehe ich Satelliten. Und dazu gehört auch das Orchester als absolut eigenständige Institution ohne direkte Anbindung an die Gemeinde. Aber wir kommen hierher und machen hier Musik, spielen wunderbare Musik verfolgter Komponisten, die in Vergessenheit gerieten. Ich will aber keine Finger in Wunden legen. Mir geht es darum, diese Musik vollkommen wertfrei wieder hervorzuheben, eben auch in Verbindung mit der heutigen Musik. Wir spielen ja sehr viel Musik des 20. und 21. Jahrhunderts und: Hört euch an, wie wunderbar diese Musik ist. Dazu suchen – und finden – wir Kooperationspartner.
nmz: Wer ist der Träger dieses Orchesters?
Grossmann: Das ist hauptsächlich der Freistaat Bayern. Die Stadt München trägt leider bisher noch gar nichts zum Erhalt des Orchesters bei. Einige private Sponsoren helfen, aber ohne den Freistaat Bayern ginge gar nichts. Wir selbst erbringen dann aber schon auch sehr gute Einspielergebnisse, worauf ich wirklich stolz bin.
nmz: Sie sind nicht nur ein Propagandist des überlieferten Instrumentariums.
Grossmann: Ich bin ein großer Fan des Computers, sofern die Technologie dem Menschen dient. Was mich sehr interessiert, ist die Möglichkeit, mit dem Computer für den Menschen unspielbare Musik hörbar zu machen, ganz besonders Musik von Iannis Xenakis, die ich sehr schätze und die ich ganz besonders interessant finde, weil ich denke, dass sie extrem vor ihrer Zeit entstanden ist. Und ich bin der festen Meinung, dass Xenakis seine Musik eigentlich für Computer komponiert hat. Er hat sie ja auch mit dem Computer komponiert. Und mich hat das sehr interessiert, diese Musik mit Computer zu realisieren, eben so, wie sie notiert ist. Ich wollte sie wirklich perfekt zum Klingen bringen.
nmz: Daniel Grossmann, 1978 in München geboren, stammt aus einer Familie mit mehreren Dirigenten, das war für ihn prägend, Harnoncourt auch, der wurde genannt, obendrein ist Iván Fischer in seiner Tätigkeit als Chef des Budapest Festival Orchestra inspirierend.
Grossmann: Ja, natürlich möchte ich auch mit den großen Orchestern arbeiten, immer auf dem Hintergrund der inhaltlichen Ausrichtung. Mein Ziel ist es, ein Orchester zu bilden, einen Klangkörper zu formen auf Basis der gemeinsamen Vorstellungen mit meinen Musikern.
nmz: Klasse Modell. Ich wünsche sehr, dass das, dem Ideal sich sozusagen annähernd, gelingen möge. Danke für das Gespräch.