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Foto des 23 Jahre jungen Reynaldo Hahn. Geschossen im Sommer 1898 von Paul Nadar.

Foto des 23 Jahre jungen Reynaldo Hahn. Geschossen im Sommer 1898 von Paul Nadar.

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Schwul, berühmt, sensitiv

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Gedanken zum 150. Geburtstag von Reynaldo Hahn
Vorspann / Teaser

Reynaldo Hahn gehört zu den unbekannteren queeren Komponist*innen. Dabei fehlt Hahn nirgends, wo es um Kammermusik- und Liedprogramme aus dem langen, fließenden Übergang des Fin de siècle von der Belle Époque und vom Impressionismus bis zur französischen Moderne mit der Groupe des Six und dem Einfluss des Jazz auf die europäische Musik geht. Der am 9. August 1874 in Caracas, Venezuela, als Sohn eines jüdischen Hamburger Unternehmers geborene und am 28. Januar 1947 in Paris als Operndirektor, exzellenter Mozart-Dirigent und Sänger verstorbene Komponist hatte 1940 wegen seiner jüdischen Herkunft nach dem Einmarsch der Deutschen seinen Lebensort Paris Richtung Cannes und Monte-Carlo verlassen. Er kehrte erst 1945 zurück, trat an der Pariser Oper sein letztes Amt an und wurde an führender Stelle letztlich Sachwalter jener musikalischen Jahrzehnte, deren Atmosphäre er seit 1894 mitgeprägt hatte.

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Der in Paris sozialisierte und ausgebildete Hahn setzte keine epochalen Musikmarken wie Debussy mit seiner zukunftweisenden Oper „Pelléas et Mélisande“ (1902) trotz zahlreicher musikalischer Bühnenwerke und Schauspielmusiken, wie der verschrobene Erik Satie mit seinen Klavierkompositionen oder gar wie Igor Strawinsky mit dem Uraufführungs­skandal des Balletts „Le sacre du printemps“ (1913) bei Serge Diaghilews Ballets russes. Dafür zeigte Hahns Entwicklung Parallelen mit dem um 21 Jahre älteren André Messager. Dieser war ebenfalls Operndirektor (an der Opéra comique). Auch Messager, wie Hahn ein hochgebildeter Ästhet, suchte für die nach 1870 ästhetisch verdichtet-verdickte Opéra-comique und musikalische Dialogstücke des erweiterten Operettengenres eine neue theatrale und musikalische Leichtigkeit, bis er wie Hahn ab den 1920ern bei einer dem Film angenäherten Opérette légère ankam. Im späten 20. Jahrhundert waren diese Spätausläufer der Gattung, welche in ihrem Entstehungsland Frankreich immer eine Repertoire-Nische behaupteten, gesunkenes Kulturgut.

Neben dessen kompositorischem Nachruhm hatten Momente aus Reynaldo Hahns Biographie immer wieder lebhaftes Interesse erweckt. Seine Liebesbeziehung ab 1894 mit dem Romancier Marcel Proust und beider sich daraus entwickelnde Freundschaft gehört neben der Langzeitpartnerschaft von Jean Cocteau mit dem wesentlich jüngeren Jean Marais und der toxischen Leidenschaft zwischen dem verheirateten Paul Verlaine und Arthur Rimbaud zu schwulen Partnerschaftsmodellen, wie sie in einem moralisch relativ offenen Frankreich zwischen 1871 und 1940 möglich waren. Im Zuge einer erstarkenden queeren Geschichtsforschung veröffentlichte Bernd-Jürgen Fischer seine deutsche Übersetzung von Marcel Prousts Briefwechsel mit Reynaldo Hahn (2018). Im Proust-Jahr 2021 folgte Lorenza Foschinis Darstellung der intensiven Liaison. Foschinis Titel „Und der Wind weht durch unsere Seelen“ verwendet eine Notiz Hahns in der Partitur seiner 1894 entstandenen Oper „L’Île du rêve“.

Diese Oper wurde von Bru Zane, dem rührigen Zentrum für französische Musik des 19. Jahrhunderts, mit dem Münchner Rundfunkorchester eingespielt und dazu einiges mehr von Hahn: Mit dem Bariton Tassis Chris­toyannis und dem Pianisten Jeff Cohen brachte Bru Zane 2019 eine Gesamteinspielung aller Lieder Hahns heraus. Wie im Falle von André Messagers später Operette „Passionément” (1926) realisiert Bru Zane einen sehr weiten Zeitbegriff für das „lange 19. Jahrhundert“. Das passt auch zu Hahn. Der Pianist Charles Spencer bezeichnete Reynaldo Hahn in einem Booklet-Text als „nie richtig im 20. Jahrhundert“ angekommen. Internet und virtuelle Datenbanken bewirken, dass gruppenspezifische Vereinnahmungen und Legendenbildungen nicht mehr durch kleine Auflagen in überschaubaren und teils hermetischen Zielgruppenfeldern bleiben. Die Auseinandersetzung mit sexuellen Orientierungen von Komponist*innen und einem daraus deutbaren Doppelsinn ihrer Sujets wurde von einem latenten zu einem von Dramaturgien, Veranstaltern und Medien in die Breite gestreuten Thema. 

Dass Reynaldo Hahn in einem Umfeld agierte, in dem sich zum ersten Mal in der europäischen Kultur- und Sittengeschichte der Neuzeit so etwas wie ein „schwuler Lebensstil“ entwickelte, fließt in diese Rezeption ein. Wie Régis Revenin in seinen Studien über homosexuelle Sozialisation in Paris um 1900 beschrieb, ist es sehr wahrscheinlich, dass in diesem verhältnismäßig toleranten Klima das Wissen um die sexuelle Orientierung der Schöpfer Rückschlüsse auf die Themen ihrer Werke evozierte, die von einem bürgerlich-heteronormativen Publikum oftmals nicht erfasst und deshalb auch nicht verstanden wurden.

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Foto des 23 Jahre jungen Reynaldo Hahn. Geschossen im Sommer 1898 von Paul Nadar.

Foto des 23 Jahre jungen Reynaldo Hahn. Geschossen im Sommer 1898 von Paul Nadar.

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Berückende Tonmalereien

Das ist aufschlussreich für Hahns 1894 entstandene und am 23. März 1898 an der Opéra comique uraufgeführte Erstlingsoper „L’Île du rêve“ (Die Trauminsel). Das Libretto von André Alexandre und Georges Hartmann zu dieser „idylle polynésienne“ in drei Akten von nur einer Stunde Spieldauer war eine Adaption von Pierre Lotis zum Teil autobiographischer Erzählung „Rarahu oder Die Hochzeit von Loti“. Bei deren Erscheinen rühmte die Tageszeitung Le Figaro „Rarahu“ als eines der „apartesten Werke seit Langem“. Hahn tauchte die „Trauminsel“ Tahiti in berückende Tonmalereien. Jules Massenet setzte großes Vertrauen in seinen Schüler Hahn, engagierte sich für die Aufführung und empfing dafür die Widmung zu „L’Île du rêve“. Inhaltlich steht die melancholische Romanze zwischen „Lakmé“ (1883) von Léo Delibes und André Méssagers „Madame Chrysanthème“ (1893), einem Bühnenvorläufer von Puccinis weitaus mehr geschärfter „Madama Butterfly“. 

Anders als Puccinis amerikanischer Leutnant Pinkerton, der Japaner als Menschen zweiter Klasse betrachtet, will Hahns Offizier Georges de Kerven seine tahitianische Geliebte Mahénu mit sich nach Paris nehmen. Diesen Gedanken verwirft er jedoch auf Rat der tahitianischen Prinzessin Oréna. Die Liebenden verabschieden sich mit einem zärtlichen „Bis morgen!“. Aber sie wissen beide, dass es dieses Morgen für sie nicht geben wird und Georges mit seiner Einheit sofort in See stechen muss. 

Die Liebesszenen sind umfangreicher als die Episoden des um Mahénu werbenden Chinesen Tsen Lee und die Begegnung Georges’ mit Téria, die mit dessen Bruder liiert war und durch Georges vom Tod ihres Liebhabers erfährt. Hahn kolorierte das Paradies Tahiti und die innige Beziehung Mahénus zu Georges in subtilen Melodien und feiner Instrumentation. Diese ganz und gar unsentimentale Innigkeit und Lieblichkeit wirkt gerade so stark, weil sie keine Zukunft hat: Wie viele schwule Kontaktanbahnungen der Entstehungszeit scheitert das Paar in Hahns erster Oper am Druck der Konventionen, an der sozialen Kontrolle durch das Umfeld und schließlich an der Unrealisierbarkeit eines gemeinsamen Lebens.

Parallelen zwischen Zuschreibungen aus der zeitgenössischen Sachliteratur und Hahns Sujet-Entscheidungen sind auch später zu häufig und explizit, als dass es sich um Zufälle handeln könnte. So hatte Hahn die Idee zu Vertonung von Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ bereits während des Ers­ten Weltkriegs. Er dachte an die Besetzung der Portia mit der Star-Sopranistin Mary Garden. Doch erst 1935 kam das Werk an der Pariser Oper heraus und gelangt seither immer wieder zur Aufführung, so am Theater Bielefeld 2017. Es ist auffallend, dass in mehreren Szenen zwischen dem Kaufmann Antonio und seinem Freund Bassiano, dem er eine hohe Summe zukommen lässt, ein ähnlich lyrisch leichter Ton aufkommt wie in „L’Île du rêve“ und anderen sehr lyrischen Momenten Hahns, hier allerdings zwischen Bariton und Bass.

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Porträt von Reynaldo Hahn am Klavier – 1907 gemalt von Zoé Lucie Betty de Rothschild (Lucie Lambert)

Porträt von Reynaldo Hahn am Klavier – 1907 gemalt von Zoé Lucie Betty de Rothschild (Lucie Lambert)

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Leichtgewichtige Ironie

Einen überaus ironischen Blick werfen Hahn und sein Textdichter Sacha Guitry in ihrer am 5. Oktober 1933 am Théâtre des Bouffes-Parisiens in Paris uraufgeführten musikalischen Komödie „Ô mon bel inconnu“ auf das Bürgertum. Die Reminiszenzen zu Situationsanordnungen des Komödienautors Georges Feydeau über Seitensprünge und die Bestätigung bürgerlicher Lebensformen kann bei diesem Operetten-Leichtgewicht Hahns nur Ironie sein. Für die Aufführung des Münchner Rundfunkorchesters 2023 hatte man die Handlung im Herbst so zusammengefasst: „Es geht um eine vom Alltag und vom eintönigen Zusammenleben gelangweilte Familie, deren Frust sich gleich zu Beginn in kleinen Streitereien während des Frühstücks entlädt. Der Ehemann und Vater, Prosper Aubertin, verspricht sich Abwechslung durch eine Partneranzeige in der Zeitung und führt seit einiger Zeit eine Korrespondenz mit einer vermeintlichen Gräfin. Auf seine Annonce haben aber inkognito auch seine Frau Antoinette und seine Tochter Marie-Anne geantwortet. Er verabredet sich mit der Gräfin in einem Hotel bei Biarritz und lädt auch die anderen beiden Briefschreiberinnen dorthin ein. Am Ende findet das Ehepaar wieder zueinander, die Tochter trifft auf den passenden Mann und die Gräfin entpuppt sich als das Dienstmädchen Félicie.“ Hier kommt um die beiden zentralen Melodien Hahns – ein unwiderstehlich schönes Chanson-Terzett an den „schönen Unbekannten“ und eine Vaudeville-artige Hymne – alles zusammen: Eskapade-Absichten, unstatthafte und im Alltagsleben unterdrück­te Gelüste, ein fast frivoler Schlagabtausch und Pikanterien en masse. Aber auch dieses Stück schaffte unverständlicherweise nicht den Sprung in den Operetten-Olymp.

Hahns Lied „À Chloris“ für Sopran und Klavier entstand auf einen Text von Théophile de Viau (1590–1626), der wegen eines ihm zugeschriebenen Gedichts erst zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt wurde. Das Urteil milderte man in einem zwölf Jahre dauernden Prozess in Verbannung. Man kann davon ausgehen, dass Hahn diese biographischen Hintergründe kannte. 

Im deutschen Sprachraum sind die Hommagen zum 150. Geburtstag von Hahn am 9. August spärlich, in Frankreich nicht wesentlich umfangreicher. Weil Hahns Vater aus Hamburg stammte, bringt das Internationale Opernstudio der Hamburgischen Staatsoper am fünften Juli erstmals in Hamburg Hahns 1923 entstandene Operette „Ciboulette“ in der Opera stabile auf die Bühne. Das vermeintlich nostalgische Flair dieser Musik nimmt Regisseur Sascha-Alexander Todtner zum Anlass, die im Pariser Weltausstellungsjahr 1867 spielende Handlung in die queere New Yorker Subkultur der 1980er Jahre zu verlegen. Es wird sich vorerst also nichts daran ändern, dass Hahn einen zwar hoch achtbaren, allerdings nur kleinflächigen Nischenplatz im Repertoire hat.

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