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Musik als existenzielle Erfahrung: der Komponist Helmut Lachenmann. Foto: Charlotte Oswald / Breitkopf & Härtel
Musik als existenzielle Erfahrung: der Komponist Helmut Lachenmann. Foto: Charlotte Oswald / Breitkopf & Härtel
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Sich neu erfinden, indem man sich treu bleibt

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Zum achtzigsten Geburtstag von Helmut Lachenmann · Von Max Nyffeler
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Komponieren und öffentlich darüber nachdenken: Nur wenigen Komponisten ist es gelungen, mit dieser Mischung aus künstlerischer Praxis und Theorie die Entwicklung der zeitgenössischen Musik nachhaltig zu beeinflussen. Helmut Lachenmann, der am 27. November achtzig Jahre alt wird, ist einer von ihnen.

Wer etwas über Helmut Lachenmann und seine Musik erfahren möchte, greift vielleicht zunächst nicht zu einer CD, sondern zu seinem Buch „Musik als existenzielle Erfahrung“, der von Josef Häusler 1996 herausgegebenen Sammlung seiner Schriften. Es ist ein Lehr- und Lesebuch für alle, die einen Einblick in das Denken eines Komponisten erhalten wollen, der, hellhörig gegenüber den gesellschaftlich-kulturellen Entwicklungen wie kein Zweiter, sein Werk immer strikt als der Gegenwart verpflichtet betrachtet hat. Doch Gegenwart ist bei ihm nie geschichtslos; die Vergangenheit ist in ihr dialektisch aufgehoben. Sein ganzes Komponieren kann als der heroische Versuch verstanden werden, durch die Negation des schlechten Bestehenden den humanistischen Gehalt der großen bürgerlichen Musik in unsere Zeit hinüberzuretten. Die durch die Hitlerzeit in ihrer Substanz getroffene Tradition soll ex negativo noch einmal beschworen werden. Bis zur Wende 1989 war seine Musik somit ein integraler Bestandteil der tiefgreifenden Auseinandersetzungen um das politische und kulturelle Selbstverständnis der alten Bundesrepublik.

Provokation mit Mozart

Ein sinnfälliges Beispiel für diesen auskomponierten Traditionsbruch ist seine Komposition „Accanto“ für Klarinette und Orchester. Sie stellt eine geräuschreiche Hohlform von Mozarts Klarinettenkonzert dar, das von Tonband mehrfach in kleinen Fragmenten zugespielt wird. „Zerstörerischer Umgang mit dem, was man liebt, um sich dessen Wahrheit zu bewahren“, so kommentierte Lachenmann sein Verfahren. Dem Hörer wird drastisch vorgeführt, dass die Reinheit von Mozarts Musik heute angeblich nur noch als Utopie vorstellbar ist. Bei der von Hans Zender dirigierten Uraufführung 1976 in Saarbrücken reagierte das Publikum tumultuös, und der Solist Eduard Brunner erinnert sich, dass das Konzert mehrfach kurz vor dem Abbruch stand. Mit solchen Auftritten hatte Lachenmann in der breiten Öffentlichkeit sein Image als Kulturzerstörer und Bilderstürmer weg. Die Insider feierten ihn als mutigen Provokateur und Bannerträger des Fortschritts, doch außerhalb dieser Zirkel fand seine negative Ästhetik keinen Anklang. Stattdessen erregte man sich über die geräuschreiche Klangoberfläche, und als er im zeitlichen Umfeld von „Accanto“ noch von „Schönheit als Verweigerung von Gewohnheit“ sprach, wurde das von einer gedankenlosen Kritik flugs in „Verweigerung von Schönheit“ umgetextet. Nun klebte an ihm zusätzlich das Etikett des großen Verweigerers. Jahrzehntelang standen bei Lachenmann Überlegungen zum Material und seiner gesellschaftlichen Präformiertheit im Zentrum des Komponierens. Doch irgendwann erschöpft sich jede kritische Idee und wird zur Routine oder, positiv ausgedrückt, zur Meisterschaft. Und das Heer der Epigonen wächst. Lachenmann hat das rechtzeitig gespürt und begonnen, sich neu zu erfinden, ohne seine früheren Positionen aufzugeben. Der Klang in all seinen Abstufungen vom Geräusch bis zum Ton wurde von seiner ausschließlich negativen Bestimmung befreit, die Harmonik und die Dramaturgie der Form gewannen an Bedeutung. In einer Komposition wie den 2005 uraufgeführten „Concertini“ tritt ein spielerisches Moment hervor.

Himmelfahrt mit Sopran

Auf gedanklicher Ebene hat sich noch etwas anderes bemerkbar gemacht: ein Hang zur Transzendenz. Wer offene Ohren hat, kann darüber nicht hinweghören. Eine zentrale Rolle spielt in dieser Hinsicht das 1997 in Hamburg uraufgeführte Musiktheaterstück „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Das gesellschaftskritische Moment erscheint hier unauffällig in das Licht christlichen Mitleids getaucht, und am Schluss findet zu den lyrischen Melismen zweier hoher Soprane eine veritable Himmelfahrt statt. Der illusionslose Epilog, der den Blick ein letztes Mal auf das irdische Elend richtet, unterstreicht dies noch. Der Komponist kann das schwäbische Pfarrhaus-Milieu nicht ganz verleugnen, in dem er aufgewachsen ist. In umgekehrter Richtung, nämlich ins Dunkle einer Höhle, geht dieser Jenseitsblick bereits 1992 in der Leonardo-Komposition „Zwei Gefühle“; zum wissenschaftlichen Erkenntnisdrang  gesellt sich hier das Erschauern angesichts des Unbekannten, das in einer radikal dekomponierten Sprache Gestalt angenommen hat. Bezeichnenderweise hat Lachenmann dieses Stück dann in sein Bühnenwerk einmontiert.

Denken mit dem Ohr

Die Arbeit am Klangmaterial war für ihn stets eine Arbeit am gesellschaftlichen Bewusstsein, und dieses betrachtet er – darin ganz Jünger der kritischen Theorie eines Marcuse und Adorno – als falsches, dem es auf die Sprünge zu verhelfen gilt. Die Voraussetzung für die Erkenntnis ist das kritische Hören und damit das Ohr als Brücke zwischen Innen- und Außenwelt. Das Organ, das Schallwellen in Gehirnströme umwandelt und dadurch das Denken in Gang setzt, wie es auch sein Lehrer Luigi Nono immer beschworen hat. „Sie sind schon denkend mit Ihrem Kopf“, konzediert ihm Nono, als er 1957 respektvoll bei ihm anklopft, ob er Kompositionsunterricht bei ihm nehmen könne.

Der Satz steht in dem von Rainer Nonnenmann edierten Briefwechsel der beiden Komponisten („Der Gang durch die Klippen“, Breitkopf & Härtel 2013). Dokumentiert ist darin der Gedankenaustausch zweier Künstler, die sich in ihrer kritischen Sicht auf die Gesellschaft im Einklang wissen, in ihrem persönlichen Naturell und in der Beantwortung der Frage, wie diese Gesellschaft denn zu verändern wäre, aber denkbar verschieden sind. Für den aktiven Kommunisten Nono war das damals eine Frage der politischen Aktion, in der eine kompromisslos avantgardistische Musik eine bewusstseinserweiternde Rolle spielen sollte. Für den Protestanten Lachenmann  konnte dieser Prozess nur über den Weg der inneren Erkenntnis zum Erfolg führen – die bürgerlich-weltflüchtige Verinnerlichungsstrategie wird dialektisch zum kritischen Bewusstseins­prozess gewendet. Für beide handelte es sich jedoch um eine genuin musikalische Angelegenheit; Gesellschaftstheorie kam erst an zweiter Stelle. Dass Komponieren eine Gesellschaftskritik in und mit Tönen sei, hat Lachenmann so einleuchtend wie variantenreich in Worte gefasst. Was ihn mit der Zeit nötigte, seine Äußerungen ein wenig zu relativieren, um sich vor seiner wachsenden Anhängerschaft zu schützen, die sich dankbar auf solche Losungen stürzte. „Es gibt kein kritisches Komponieren, so wenig es kritischen Beischlaf oder kritisches Essen gibt“, ist eines seiner vielen Bonmots. An Witz hat es ihm nie gefehlt.

Basiswissen Lachenmann

Kaum ein lebender Komponist hat den Diskurs der Gegenwartsmusik so sehr geprägt wie Helmut Lachenmann. Die Fachliteratur verzeichnet lange Listen von Sekundärtexten. In den Kompositionsklassen der Hochschulen gehören seine Instrumentalbehandlung und die damit verbundene Notationspraxis heute zum Basiswissen, manchmal haben sie auch den Charakter einer Rezeptsammlung angenommen. „Wir machen Lachenmann“ kann man auf die Frage, was er denn gerade lerne, auch schon einmal von einem Studenten hören. Im akademischen Bereich sind die von ihm geschaffenen Begriffe mancherorts zum diskursiven Goldstandard geworden. Über seine „Musique concrète instrumentale“, seine Definition der Klangtypen, seinen Begriff des ästhetischen Apparats und die von ihm 1976 neu aufgeworfene Frage der Schönheit sind unzählige Seminare veranstaltet und Abschlussarbeiten geschrieben worden. Sein Publikum ist im Lauf der Zeit ständig gewachsen, und wenn es darum geht, den Saal zu füllen, gilt seine Musik heute bei den Veranstaltern als sichere Bank.

Aus dem geächteten Einzelgänger von einst ist der international renommierte Repräsentant der Neuen Musik made in Germany geworden, der es sich leisten kann, auch einmal Rezensenten großer Zeitungen brieflich zurechtzuweisen, wenn er sich nicht seinem Rang gemäß behandelt fühlt. Solche Kleinlichkeiten gehören indes zu den üblichen Querelen im Normalbetrieb, in dem er nach vielen Jahren des Kampfes angekommen ist, und sollen auch nicht von der Hauptsache ablenken: dass wir es hier mit einem Komponisten zu tun haben, der durch konsequente Arbeit und unerschütterlichen Glauben an das von ihm als richtig Erkannte einen gewichtigen Beitrag nicht nur zur Gegenwartsmusik, sondern vielleicht auch zur Musik der Zukunft geleistet hat. Und der das hoffentlich auch weiterhin tun wird. In diesem Sinn also: Glückwunsch, Helmut Lachenmann, zum Achtzigsten! 

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