Immer wieder gab es Interpreten, die für Komponisten von entscheidender Bedeutung waren – die nicht nur „authentisch“ deren Werke aufführten, sondern sogar an deren Zustandekommen beteiligt waren, ja geradezu zum ko-kreativen Alter Ego wurden. So ist Joseph Joachims geigerisches Ingenium über den Solopart hinaus ins Brahms-Konzert eingegangen, ebenso Richard Taubers Tenorschmelz in Lehárs Operetten. Kaum zu überschätzen ist auch die aktive Identifikationsübertragung Dietrich Fischer-Dieskaus bei nicht wenigen bedeutenden Werken seit den fünfziger Jahren; nicht zuletzt fast im Sinne eines vexierbildhaften Dreifachporträts des Großdichters Gregor Mittenhofer alias Hans Werner Henze wie Fischer-Dieskau in Henzes „Elegie für junge Liebende“. Ähnliches gilt für Reimanns „Lear“. Und die livelektronischen, mikrotonalen und Raumklang -erkundungen des späten Nono wären ohne die Mitwirkung von Hans-Peter Hallers Freiburger Experimentalstudio so zumindest nicht fruchtbar geworden.
Besonders freilich wirkte sich derlei qui pro quo der künstlerischen Interaktion aus, spielte auch noch die private Komponente hinein. Wobei die Frage, wie weit Clara Schumann über die Rolle der liebend beflügelnden Muse wie passionierten Interpretin hinaus tatsächlich an den unerhörten Exaltationen der frühen Schumannschen Klavierwerke Anteil hatte, offen bleibt, ähnlich wie im Falle der Lebenspartnerschaft des Komponisten Benjamin Britten und des Tenors Peter Pears. Wie weit Suzanne Stephens und Kathinka Pasveer für die Entwicklung Karlheinz Stockhausens ab seinem „Licht“-Projekt beteiligt waren, wird wohl auch noch die Stockhausen-Forschung beschäftigen.
Aber auch Olivier Messiaen stand quasi eine Klavier-Clara, anregend wie ausführend, zur Seite: Yvonne Loriod, Schlüsselfigur seines epochalen Klavierwerks. Obwohl Messiaen nicht nur ein charismatischer Organist und Revolutionär der Orgel, sondern auch ein exzellenter Pianist war, der, wie seine Schüler bezeugen, nicht nur alles selber am Klavier demonstrieren, sondern auch vom Blatt spielen konnte. Yvonne Loriod, 1924 bei Paris geboren, war ein exzeptionelles, nahezu wunderkindhaftes Klavier-Talent, und beherrschte schon mit fünfzehn zentrale Repertoire-Bereiche (Bach, die Mozart-Konzerte, Beethoven, Chopin). Technik, Gedächtnis, Gehör, rhythmische Sicherheit, aber auch der vitale Elan fürs Neue galten schon früh als sensationell. Als Messiaen die erst Neunzehnjährige kennenlernte, kreierte er mit ihr seine „Visions de l‘amen“ für zwei Klaviere, und seitdem war Yvonne Loriod, bald seine Frau, an all seinen Klavierwerken beteiligt – bis hin zu den späten „Petites esquisses d‘oiseaux“ (1986). Es sind gewaltige Zyklen dabei, die „Vingt regards sur l’enfant Jésus“ und der „Catalogue d’oiseaux“, auch exzeptionelle Werke mit Orchester.
Wer Messiaens Klavierstil kennt, weiß, welch extreme Anforderungen nicht nur technischer, sondern vor allem auch struktureller, besonders aber rhythmischer Art dieser bietet; nicht zufällig liegen hier die Ursprünge der seriellen Musik. Und physischer Kraft bedarf es ohne Ende: Mancher Pianist konnte nach einigen der „regard“-Steigerungen nur noch die Hände in kaltem Wasser lockern. Yvonne Loriod spielte vieles mit entwaffnender Ruhe. Mit Pierre Boulez hat sie sogar dessen zweiklavierige „Structures II“ mit ihren mobilen Formverläufen 1961 in Donaueschingen uraufgeführt, überdies Debussys „En blanc et noir“ aufgenommen. Sie hat sich auch sonst keineswegs nur auf Messiaen beschränkt, sondern genauso fast alle Mozart-Konzerte, Bartók und (von Kennern gerühmt) nicht zuletzt Schumann gespielt. Anfang der 60er-Jahre war ihre Véga-Platte mit der Berg-Sonate, den Webern-Variationen und der damals noch unvorstellbar komplexen zweiten Boulez-Sonate, die sie uraufgeführt hat, eine regelrechte Klavier-Sensation, auch für den Autor.
Ab den 70er-Jahren hat sie sich als Interpretin immer ausschließlicher dem Werk Messiaens verschrieben. Dabei hatte sie in den traditionellen Repertoire-Bereichen enorm viel zu bieten. Nicht zufällig hat Boulez, wie gar nicht so wenige Komponisten nicht unbedingt ein Mozart-Verehrer, mit ihr einige gerade der frühen Konzerte aufgenommen. Gleichwohl wird sie in erster Linie als die für den Komponisten so inspirierende wie seine Intentionen authentisch, also auch sinnlich-suggestiv vermittelnde Sachwalterin seines außerordentlichen Klavierwerks repräsentativ bleiben.
Vor allem am Pariser Conservatoire hat sie von 1967 bis 1989 gelehrt; und bei den großen Wettbewerben amtierte sie, ganz Grande Dame, als Jurorin. Bis in die neunziger Jahre war sie aktiv; auch in der Bundesrepublik konnte man sie oft hören, nicht zuletzt mit den „Vingt regards“ sowie mit dem exorbitant schwierigen Solopart in Messiaens gewaltiger „Turangalîla“-Sinfonie – gemeinsam meist mit ihrer Schwester Jeanne Loriod an den präelektronischen Ondes Martenot.
In Erinnerung bleibt nicht nur ihr fulminant energetisches Klavierspiel, sondern auch, wie sie, mütterlich resolut, den betagten Messiaen umhegte, den im Betrieb mitunter eher hilflos wirkenden Komponisten vor allzu alltagsweltlichen Turbulenzen abschirmte. Nun ist sie, eine majestätische Erscheinung, mit 86 Jahren gestorben.