Cluster aus Trompeten-, Flöten- und elektronischen Klängen fluten den Saal. Die Klangflächen halten sich nie lange auf, die Musik stolpert, stürzt, folgt der Szene oder eilt ihr voraus. Mal untermalt sie das Parlando der Sänger, mal zitiert sie aus Berlioz’ „Symphonie fantastique“, dann wieder tönt sie renaissancehaft. „Aber das stimmt nicht!“, sagt York Höller, „die mittelalterliche Musik stammt von mir.“ Man hört ihm das Vergnügen an der Täuschung an. Ein leichter Singsang in der Stimme verrät den gebürtigen Rheinländer – und der lakonische Humor, der durch seine Sätze schimmert. Der weißhaarige Mann mit der dicken Brille und dem verschmitzten Gesichtsausdruck, am 11. Januar 2014 wird er 70, lebt in Köln, wo er als Nachfolger von Henze an der Hochschule Komposition gelehrt hat.
Wenige Tage vor der Premiere seiner Oper „Der Meister und Margarita“ im September 2013 sitzt Höller mit der Dramaturgin Kerstin Schüssler-Bach zum Komponistengespräch auf einer Nebenbühne der Staatsoper Hamburg. Dort hätte 1989 die Uraufführung der Oper nach Michail Bulga-kows gleichnamigem Roman stattfinden sollen, die der damalige Intendant Hans Zender 1984 bei ihm in Auftrag gegeben hatte. Nur warf Zender vorzeitig das Handtuch – mit der Konsequenz, dass Höllers Werk verwaiste. Es war ein unerwartetes Glück, dass die Grand Opéra de Paris es 1989 aus der Taufe hob. Zwei Jahre später erlebte „Der Meister und Margarita“ seine Deutsche Erstaufführung in Köln, und dabei blieb es. Erst diese Saison ist die Oper gleichsam heimgekehrt; der Regisseur Jochen Biganzoli und der Dirigent Marcus Bosch haben mit ihr in Hamburg die Saison eröffnet.
Mit elektronischer Musik hat sich Höller immer wieder intensiv befasst, mehrmals auch am Pariser IRCAM. Köln war in den 60er-Jahren ein Zentrum der Avantgarde, der streitlustigen Branche, entsprechend gespalten in die Lager Zimmermann und Stockhausen. Höller studierte bei Zimmermann und wurde 1971 trotzdem von Stockhausen eingeladen, im Studio für elektronische Musik des WDR drei Monate lang ein Stück zu erarbeiten. Heraus kam „Horizont“ für 4-Kanal-Tonband, Höllers einziges rein elektronisches Stück: „Die Hörer mögen es einfach nicht, vor Lautsprechern zu sitzen“, konstatiert er.
Ausgangspunkt seines musikalischen Wirkens aber war das Klavier. Sein Opus 1 beinhaltet „Fünf Stücke für Klavier“ von 1964; damals studierte er noch Schulmusik. Ein Schlüsselerlebnis wurde die Uraufführung von Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ an der Kölner Oper im Februar 1965. Mit „Topic“ für großes Orchester etablierte er sich 1967 als Komponist.
Seine Kompositionsweise hat sich von der Zwölftönigkeit früher Werke über Spielarten des Serialismus bis hin zu seinem Individualstil entwickelt, dessen zentrales Merkmal die „Klanggestalt“ ist: Höller stellt zunächst eine Zwölftonreihe auf, jedoch keine starre wie bei Schönberg, sondern ein transformierbares Gebilde. Diese Reihe ist das Ausgangsmaterial für das gesamte Werk. Dabei entsteht eine ungemein sinnliche Musik.
Jüngst war das in Hamburg bei der NDR-Reihe „das neue werk“ zu erleben, in der Adrian Brendel und das NDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Alejo Pérez Höllers Cellokonzert uraufgeführt haben, ein Auftragswerk des NDR. Ebenfalls auf dem Programm stand der Zyklus „Sphären“ für großes Orchester und Live-Elektronik, für den Höller 2010 mit dem Grawemeyer Award ausgezeichnet wurde.
Auszeichnungen, renommierte Auftraggeber, Stipendien – derlei Ehrungen säumen Höllers Lebensweg. Im Gespräch gefragt, was sie ihm bedeuten, hält er es mit Brahms, der einmal gesagt hat: „Orden sind mir wurscht, aber haben will ich sie.“ Höller fügt hinzu: „Vor allem, wenn sie anständig dotiert sind!“, und erhebt sich aus seinem Sessel. Nur daran, wie er nach dem dargebotenen Arm seiner Gesprächspartnerin tastet, wird man gewahr, was die Lebendigkeit seiner Mimik und seine Präsenz nie hätten vermuten lassen: Höller ist blind. Einen Kompositionsauftrag der Wiener Staatsoper musste er bereits Mitte der 90er-Jahre ablehnen – die Arbeit an einem Musiktheater war zuviel für seine nachlassende Sehkraft. „Der Meister und Margarita“ wird York Höllers einzige Oper bleiben.