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Spaziergänger zwischen U und E

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Sänger, Schlagzeuger und Komponist: David Moss
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In Salzburg sang David Moss dieses Jahr als Solist in Luciano Berios dort uraufgeführter Oper „Cronaca del Luogo“. Unter mehr als 120 Musikern und Sängern war er der einzige Improvisator. In der Gemeinschaftskomposition „Heartpiece“ von John King und Krzysztof Knittel, einer Produktion des Festivals Warschauer Herbst, übernimmt er den Gesangspart mit Texten Heiner Müllers. Voriges Jahr war Moss mit dem Jazzorchester des Kölner Komponisten Klaus König unterwegs. Und im kommenden Jahr ist er Kurator für ein Improvisationsprojekt beim großen Adelaide Festival im Süden Australiens. Morgen spielt er vielleicht Schlagzeug im nahegelegenen Rockclub – dabei singend. David Moss Dennoch ist der amerikanische Sänger, Schlagzeuger und Komponist alles andere als ein Entertainer oder Popsänger mit den immergleichen Geschichten. So klingt beispielsweise seine Version der Popschmonzette „Delilah“, mit welcher der walisische Sänger Tom Jones 1968 einen ansehnlichen Charterfolg hatte, wie ein prachtvoller militärischer Aufmarsch, aufgeführt in einem Kasperltheater. Begleitet vom eigenen Schlagzeugspiel, das eher einer dekonstruktiven Percussionperformance gleicht, und vielfältigen Overdubs der eigenen Stimme schafft er ein Drei-Minuten-Kunstwerk. Noise-Music hieß das passende Schlagwort dazu in den 80er Jahren. Auf dem vor acht Jahren produzierten Solo-Album „My favorite things“ hat David Moss weitere „favorite songs“ versammelt, von Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“ über „Dance On“ des amerikanischen Popstars Prince bis zu einer wundervoll bildhaften, ausschließlich mit Stimme kreierten Version von Albert Aylers „Ghosts“. „Ich singe, was ich liebe“, begründet der in Berlin lebende Musiker die ungewöhnliche Zusammenstellung. Viele, die dem 1949 in New York City geborenen Musiker erstmals begegnen, erleben den Vokalakrobaten wie einen grandiosen Wirbelsturm. Bedrohlich und berauschend zugleich, wie Kritiken des öfteren konstatieren. Moss jongliert mit Wörtern, Satzbestandteilen und Vokalklängen. Er zerlegt und zergliedert sie, reißt sie aus geläufigen Zusammenhängen, setzt sie neu zusammen und schafft verblüffende Verbindungen. Rasend schnell spuckt er Wortfetzen im staccatissimo aus, als gelte es Wirbel auf dem Trommelfell der Zuhörer zu spielen. Diesem scheinbar wirren Chaos von gehetzter Dichte, Sprunghaftigkeit, dem sensiblen Ausloten eines einzelnen Klanges, orgiastischer Expressivität und einem lustvollen Auskosten improvisatorischer Spannung liegt ein differenziertes Konzept zugrunde. Spontaneität und musikalisch kohärente innere Dramaturgie schließen sich bei Moss nicht aus. Klänge und Geräusche folgen schlüssig aufeinander und nehmen ihren Platz in geschriebenen, wie in nur imaginierten Partituren nach des Sängers Idee ein. Hinzu kommt eine physische Intensität, „singen hat viel mit Körper zu tun.“ Die Parallelität von Schlagzeugspiel und Singen kommt nicht von ungefähr. Bei einem Umzug entdeckte der 13jährige ein uraltes Drumset seines Vaters, eines begeisterten Hobbymusikers. Das riß er sich unter den Nagel und begann eifrig zu üben. Ein Studium russischer Geschichte (Moss’ Großeltern kamen aus Bessarabien nach Amerika) gewann aber zunächst die Oberhand gegenüber der Musik. Erst das Leben in einer Landkommune anfang der 70er Jahre führte ihm vor Augen, daß „Musik eindeutig fesselnder ist als Geschichte.“ Im Selbststudium erkundete er Postbop, Mainstreamjazz, Big Band-Musik sowie Miles Davis und John Coltrane, die er heute noch zu seinen spirituellen Meistern zählt. Ein Kompositionsstudium bei dem marxistisch orientierten Trompeter Bill Dixon am Bennington College trug dem Hippie ein Engagement als Percussionist in Dixons Band ein. David Moss Beim Proben stellte Moss immer wieder einen starken Energieverlust fest. Weil er sehr angespannt spielte, ging ihm öfter der Sauerstoff aus. Den Mund einfach offen stehen zu lassen, funktionierte nicht. Stattdessen begann er zu summen, den Atem rhythmisch einzusetzen, er entwickelte mit der Stimme Ostinati und erweiterte so sein Schlagzeugspiel in eine völlig neue, ungewohnte Richtung. Der Gesang wirkte wiederum zurück aufs Schlagzeugspiel. 1973 gab er sein erstes Solokonzert, eine erste privat produzierte Solo-LP „Terrain: Solo Percussion & Voice“ verkaufte sich immerhin achthundertmal. Internationale Aufmerksamkeit bekam er spät, als in den 80er Jahren die New Yorker Avantgarde-Szene weltweit Wellen schlug. Den damals herrschenden „Zeitgeist“ hat Moss noch heute präsent: „Es war diese Mixtur aus verschiedenen Elementen, Rockmusik, Minimalismus, Jazz, Tanz, die Energie der Performance, die die Leute verrückt und gleichzeitig happy machte. Sie fühlten eine Beziehung zu uns Musikern.“ Ermuntert von einem Freund, bewarb er sich um ein Stipendium des Künstlerprogramms des Deutschen Akademischen Auslandsdiensts und kam 1991 nach Berlin, wo er nach Ablauf des Stipendiums wohnen blieb. Sehr schnell eröffneten sich dem Artist-in-Residence neue Betätigungsmöglichkeiten. Da seine Musik eindeutig weder dem einen, noch dem anderen Lager von U- und E-Musik zugeschlagen werden konnte, bekam er Engagements in Rock- und Jazzclubs, wurde auf Avantgarde- und Underground-Festivals eingeladen. Er gastierte in Witten bei den Tagen für Neue Musik, trat 1995 als Vokalsolist mit dem Ensemble Modern auf und spielte/sang in Werken von Heiner Goebbels. „In Amerika“, zieht er staunend und begeistert interkontinentale Vergleiche, „hätte mich nie, niemals jemand eingeladen mit einem Orchester zu singen! Es gibt kein Geld dafür.“ In Europa hat der trotz seiner Größe und kräftigen Statur zappelige Musiker aber nicht nur genügend und bessere Arbeitsmöglichkeiten gefunden. In der Unterscheidung von U- und E-Musik hat er ein System entdeckt, „mit dem ich meinen Spaß treiben kann.“ Neben der Soloarbeit zählen Radiohörspiele, seine seit 1985 bestehende „Dense Band“, Theaterarbeit und ein neues Vokalprojekt „Vocal Village“ zu den wichtigsten Bereichen von Moss’ vielfältigem Schaffen. Im kommenden Jahr hat „Rhythm in the 21st Century“ am Züricher Theater am Neumarkt Premiere und auf einer Tournee will er sein skurriles Dada-Märchen „Einstein for Aliens“ in einer Ein-Mann-Performance vorstellen. Lust und Freude an der Improvisation wird es ihm auch bei diesen stärker festgelegten und strukturierten Projekten ermöglichen, „unknown moments“ zu kreieren. Denn das Überraschende, der unbekannte Moment ist es, was für David Moss die Schönheit der Musik ausmacht. Michael Scheiner Auswahl-Diskographie: David Moss, Time Stories (Duos 1998), Intakt 054. – David Moss, Moss Tales (Solos 1996), edel 001 4502TLR. – David Moss Dense Band, Texture Time (Quartet 1994), Intakt/Records Verlagsgesellschaft. – David Moss, my favou- rite things (Solo 1991), Intakt/Records Ver- lagsgesellschaft mbH. – Moss/Otto/Schulte, The day we forgot, (Kompositionen/Impro-visationen 1991), nml

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