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Der weiterwirkende Maulwerker: Dieter Schnebel. Foto: Charlotte Oswald
Der weiterwirkende Maulwerker: Dieter Schnebel. Foto: Charlotte Oswald
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Sprengsätze in Hohlräumen von Tradition und Körper: Dieter Schnebel zum Achtzigsten

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Hauptwerk der Donaueschinger Musiktage 1992 war Dieter Schnebels ausladend-abendfüllende „Sinfonie X“. Wobei der Titel gleichermaßen nostalgische Beschwörung erhabener Tradition als auch radikale Utopie verhieß. Verwies doch der Buchstabe X auf die Fragment gebliebene „Zehnte“ des von Schnebel überaus verehrten Gustav Mahler als verzweifelte Grenzüberschreitung des klassisch-romantischen Mehrsätzers.

Zugleich ist er das mathematische Symbol für die erst zu errechnende „Unbekannte“ einer Gleichung, also deren Offenes, latent sogar Unendliches. Und schließlich steht er, als griechisches „Chi“, für eine gegenläufige Konstruktion über Kreuz. Dies allerdings steht nicht nur für rational-rigide Struktur, Naturbeherrschung, sondern auch für deren entschiedenen Gegensatz: das christliche Zentralsymbol für den Opfertod Jesu. „X“ bedeutet demnach unauflösbare Widersprüchlichkeit auf verschiedenen Ebenen.

Man geht also nicht fehl in der Annahme, dass diese in ihren Ausmaßen und Ansprüchen durchaus monumentale „Symphony to end all symphonies“ für Schnebel Schlüsselcharakter besitzt. Zumindest wagte sie exemplarisch den dialektischen Spagat zwischen mitunter geradezu physiologisch-haptischer Konkretion des Klanglichen und einer in hohem Maße konzeptionalistischen Ästhetik nach Art eines auch abstrakten Ideen-Theaters. Eben deshalb ist Schnebel ein Künstler, den man nur mit erheblicher Mühe auf einen, fixen Begriff bringen kann: Musik also nicht nur zum Hören, sondern auch Sehen – und nicht zuletzt Denken, Imaginieren, Assoziieren, womöglich sogar Halluzinieren.

Wer Schnebels Entwicklung seit den sechziger Jahren verfolgt hat, wird denn auch dem Phänomen des vielschichtig Mäandernden begegnet sein. Zufällig ist dies keineswegs, entspricht es doch seinen Anfangs-Konstellationen. Am 14. März 1930 im badischen Lahr geboren, wollte er zunächst Pianist werden, entschied sich aber fürs Studium der Musikwissenschaft, Philosophie und evangelischen Theologie in Freiburg.

Er kommt also nicht aus dem Pastorenhaus, wie Helmut Lachenmann, sondern strebte in diese Sphäre. Wobei es ihm allerdings weit weniger um „erbauliche“ Kirchenfixierung ging, sondern um einen Protestantismus eher in der „linken“ Tradition Karl Barths. Übrigens hat er sogar in Kaiserslautern, Frankfurt und München als Pfarrer und Religionslehrer gewirkt. Das Christentum hat er stets im Sinne einer „theologia crucis“ verstanden, mitnichten als glanzvolle Institution. In den theologischen Relikten seiner Ästhetik berührte er sich mit einem seiner Haupt-Interpreten, Clytus Gottwald, aber auch mit Heinz-Klaus Metzger, der schließlich sogar die Sterbe-sakramente empfing. Insofern überrascht es nur bedingt, dass ausgerechnet Schnebel mir unlängst gestand, ihm erschiene der Katholizismus auf seine alten Tage verlockend. Ganz zufällig ist dies nicht. Denn um puristische Widerspruchsfreiheit ging es Schnebel kaum je; und protestantischer Bilderfeindlichkeit begegnete er mit durchaus unorthodoxer Körper-Theatralik.

So zählt Schnebel zu den Protagonisten des „Instrumentalen Theaters“, bei dem Spielvorgänge selber zum tönend-sichtbaren Ereignis werden („visible music“, „Anschläge – Ausschläge“). Und nicht nur das: Vor allem hat Schnebel die vox humana gründlich revidiert, in „Maulwerke“, „Atemzüge“ und „Körper-Sprache“, die Produktion von Sprache, Klang und Geräusch von ihren Erzeugungsorganen und Begleiterscheinungen her quasi physiologisch auskomponiert, darüber hinaus in seinen Werken „für Stimmen“ (für Clytus Gottwalds singuläre Stuttgarter Schola Cantorum) nach der Devise „Alles was Odem hat, lobe den Herrn“ auch die kreatürlichen Phoneme der Tierwelt noch integriert. So wie die Offenheits-Ästhetik von John Cage ihn beeinflusst hat, so bezeichnend war, dass er ein epochales Buch über Mauricio Kagel, den Komponisten auch mit „nichtklingenden Materialien“, geschrieben hat. Sein im weitesten Sinne theatralischer Partner war Achim Freyer, sowohl bei den phonetischen Exkursionen als auch auf der Opernbühne in Köln, Hamburg („Vergänglichkeit“) und Leipzig („Majakowskis Tod/Totentanz“).

„Stumme“ Musik hat bei ihm gleichermaßen eine Rolle gespielt: „ki-no“ für Projektoren und „Mo-No“ – „Musik zum Lesen. Auch hier der Mehrfach-Sinn: als Anspielung auf die Exerzitien des japanischen No-Theaters, als Verweis auf die Ebene der Lektüre, aber auch deren Verweigerung als plane Schrift. Man könnte darin protestantische Askese entdecken. Aber wenn Schnebel in „Mo-No“ einige Takte der Kopfsatz-Coda von Schuberts B-Dur-Sonate zitiert, ist dies mehr als Collage, sondern Bekenntnis eines Komponisten, der elementare Essays über Beethoven, Schubert, Wagner, Bruckner, Mahler und Janácek geschrieben hat. „Tradition“ ist für Schnebel kein totes Ritual-Material, sondern fortzuschreibende Verpflichtung. Davon zeugen zahlreiche Bearbeitungen.

Deren womöglich produktivste ist die „Schubert-Phantasie“, in der er im Kopfsatz der G-Dur-Klaviersonate dessen Obertonspektren herausfiltert, wodurch eine gleißende „Blendwerk“-Schicht entsteht. Zu Schnebels Anti-Dogmatismus gehört auch, dass er die Tradition der Tonalität/Tonalität der Tradition nicht rigide verschmäht. Auf eine, gar alleinseligmachende Ästhetik wollte er sich nicht festlegen. Operationalistische Freizügigkeit, in allem Ernst, darum ist es ihm immer gegangen. Insofern taugt er gerade nicht zum Kirchenvater. Eben darin wirkt er weiter.

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