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Tiefe Melancholie und ewige Sehnsucht

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Carmen Piazzini – die musikalische Rückkehr zum Rio de la Plata und der argentinischen Pampa
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Aus Carmen Piazzinis über 50 CD-Einspielungen mit einer Bandbreite von der Klassik und der Romantik bis zur Moderne ragen die Gesamtaufnahmen aller Klaviersonaten und (mit den St. Petersburger Solisten unter Michail Gantvarg) aller Klavierkonzerte Mozarts heraus (col legno). Ihre Aufnahmen von fünf Klavierkonzerten Beethovens (mit der Bayerischen Kammerphilharmonie und der Radio-Philharmonie des NDR Hannover unter Michael Helmrath) sind Marksteine ihrer herausragenden pianistischen Disposition (gutingi). Dies trifft auch auf Piazzinis Aufnahme des ersten Klavierkonzerts des zeitgenössischen deutschen Neutöners Franz Hummel zu, welches sie mit den Moskauer Symphonikern unter Alexei Kornienko aufführte (Arte Nova). „Carmen Piazzini hat alles in den Fingern, was große Pianisten haben müssen“, sagt Hummel über seine Solistin und knüpft damit an ein Urteil an, welches Wilhelm Kempff – ihr Mentor zu Beginn ihrer Karriere – schon 1977 über das damals von Argentinien nach Deutschland übergesiedelte Tastentalent abgegeben hatte: „Carmen Piazzini hat die Gaben der echten Künstlerin: Wärme der Empfindung, Tiefe des Ausdrucks, Größe der Gestaltung.“ Carmen Piazinni (Foto: B. Noelle) Carmen Piazzini, die in Darmstadt lebt und an der Musikhochschule in Karlsruhe unterrichtet, kommt aus einer bekannten Musikerfamilie in Buenos Aires/Argentinien. Ihr Großvater Edmondo Piazzini, ein enger Freund des italienischen Opernkomponisten Giaccomo Puccini, wanderte von Viareggio/Italien nach Buenos Aires aus und gründete dort das angesehene Konservatorium Thibaud-Piazzini. So verkehrten im Elternhaus der kleinen Carmen internationale Musikerpersönlichkeiten wie Rubinstein, Backhaus und Toscanini, und dies war der Nährboden, auf dem sich ihre musikalischen Fähigkeiten entwickeln konnten. Früh zeigte sich ihr großes Talent und Vincenzo Scaramuzza, der zugleich Lehrer von Martha Argerich war, holte sie in seine Klavierschule. Schon mit 15 Jahren war sie eine gefeierte Pianistin, die mit einem ungewöhnlich großen Repertoire auf sich aufmerksam machte. Auf einer aktuellen Einspielung (1998 bei Arte Nova) widmet sich Piazzini der Musik ihrer argentinischen Heimat, darunter einem der schönsten Kapitel der musikalischen Kultur ihrer Heimatstadt Buenos Aires, nämlich Kompositionen des Tango-Erneuerers Astor Piazolla. Piazzini über ihre Stückauswahl: „Europäische Musik begleitete mein Leben von frühester Kindheit an. Ihre philosophische Haltung, ihre stilistische und gestische Vielfalt, ihr Hang zu künstlerischer Individualität, ihre Artistik waren und sind bis heute Leitbilder meiner künstlerischen Ästhetik. Es musste mithin einen besonderen Grund geben, Astor Piazzolla auf CD einzuspielen, denn ich bin schließlich keine ‚Tanguera‘. Piazzolla war ausgebildeter klassischer Pianist und das Klavier war lange ‚sein‘ Instrument, bevor er sich für das Bandoneon entschied. Aus diesem Grund sah ich mich berechtigt, Piazzolla mit meinen klassischen Mozartfingern zu spielen und ich versuchte in keinem Augenblick, dies zu verstecken. Dabei fühlte ich mich ihm, der lange im Ausland lebte und tiefe Melancholie und ewige Sehnsucht nach seinem Geburtsland empfand, in schönster Weise verbunden“, erklärt sie geradezu rechtfertigend ihren „Zugriff“ als klassische Musikerin auf Piazzollas Werk, dem es sicher nicht an künstlerischer Individualität und Ausdrucksvielfalt mangelt; doch sie erklärt dies auch abgrenzend gegenüber „Zugriffen“ von Kollegen wie Daniel Barenboim, Gidon Kremer oder Yo Yo Ma, die den klassischen Duktus zwar nicht ablegen, sich jedoch bewusst – aber nicht immer erfolgreich – in das Tango-Idiom hineinbegeben. Und dies ist der besondere Reiz von Piazzinis Interpretationen: Sie spielt sie strikt im klassischen Idiom und reduziert auf die Essenz der Notation. Keine dramaturgischen Dehnungen und Modulationen der Töne, wie es das Bandoneon zulässt, keine Tempoverschleppungen, keine perkussiven Zusätze, keine spontan improvisierte Ornamentik, wie wir es vom Maestro de tension (vor allem im Konzert) gewohnt waren; statt dessen die schlichte Schönheit des melodischen Einfalls, der harmonischen Raffinesse und der rhythmischen Vorgabe der jeweiligen Komposition. Die Pianistin beschäftigt sich neben Piazolla auch mit weiteren argentinischen Komponisten wie Alberto Ginastera und Carlos Gustavino. Auf der oben erwähnten Einspielung ist Ginastera mit einer untypischen Milonga sowie einer dreisätzigen Suite argentinischer Tänze (Danzas Argentinas) vertreten. Von Carlos Lopez Buchardo, Carlos Gustavino, Jorge Fontenla, Alberto Williams und Julian Aguirre sind jeweils ein bis zwei Stücke zu hören. „Alle diese Komponisten hatten freundschaftliche Beziehungen zu meiner argentinischen Familie. Ihre Stücke spiele ich seit meiner Kindheit, sie sind mir deshalb sehr vertraut. So entschloss ich mich, eine Auswahl von Komponisten, die wie Piazzolla sich nicht nur über ihren Nationaltanz definieren lassen wollen, einzuspielen. Ich denke, die Aufnahme gibt mir Recht. Denn sie sind im Gegensatz zu Piazzolla, der in seinen letzten Lebensjahren auf der ganzen Welt großen Ruhm erlangte, außerhalb Argentiniens mit Ausnahme von Ginastera kaum bekannt und verdienen es, gehört zu werden.“

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