Mehr als 20.000 Zuschauer drängen sich an jenem Abend auf den steilen Rängen der Berliner Waldbühne. Im Orchester zückt jemand eine Kamera und fotografiert dieses schier unendliche Menschenmeer, wie man auf einem privaten Schnappschuss sehen kann. „Es war ein gigantisches Erlebnis, wir befanden uns alle in einer Art Ausnahmezustand“, beschreibt der in Ost-Berlin aufgewachsene Bratscher Thomas Selditz seine Eindrücke vom Freiluftkonzert des Gustav Mahler Jugendorchesters am 6. August 1988.
Die Musiker, damals alle um die 20 Jahre alt, führten unter Leitung des weltbekannten Dirigenten Claudio Abbado die Dritte Sinfonie von Gustav Mahler auf. „Das Posthorn-Solo kam von hinten aus dem Wald“, erinnert sich der Kontrabassist Andreas Wylezol. „Und als die Sopranistin Jessye Norman im vierten Satz ‚Oh Mensch! Gib acht!‘ sang, hat sie die Ersten Geigen förmlich in sich aufgesogen.“
Selditz, heute Professor für Viola an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien, und Wylezol, Solo-Kontrabassist der Sächsischen Staatskapelle Dresden und Mitglied des Bayreuther Festspielorchesters, waren 1988 unter den ersten acht Musikern aus der DDR, die mit dem Orchester Tourneen durch ganz Europa unternehmen konnten.
Zwei Jahre zuvor hatte Abbado, damals Musikdirektor an der Wiener Staatsoper, ein utopisch erscheinendes Projekt in Gang gesetzt. Im Gegensatz zum Jugendorchester der Europäischen Gemeinschaft, das der Italiener seit 1978 als Gründungsdirigent prägte, sollte der neue Klangkörper unter dem Patronat des Europarats Nachwuchsmusikern aus Nicht-EG-Staaten offenstehen und sogar den Eisernen Vorhang überwinden. Abbado orientierte sich dabei am Ideal eines kulturell vereinten Mitteleuropas. Wie sein Namenspatron Gustav Mahler sollte das Orchester unter anderem in Musikstädten wie Wien, Budapest, Prag und Ljubljana präsent sein. Die entscheidenden Weichen wurden im Oktober 1985 auf dem Kulturforum der KSZE in Budapest gestellt, wo Delegierte aus Ost und West mit Begeisterung auf den Vorschlag reagierten.
Dem Orchester gehörten zunächst vor allem Österreicher, Tschechen, Ungarn und Skandinavier an. Wie sich Zeitzeugen erinnern, setzte sich Abbado persönlich dafür ein, dass Studenten der DDR mit Reisepässen und Visa für ganz Europa ausgestattet wurden. Selditz, Wylezol und die übrigen Streicher wurden von den vier Musikhochschulen des Landes in Berlin, Weimar, Leipzig und Dresden ausgewählt. Vor der ersten Tournee im Frühjahr 1988 sei ihnen bei einer „Belehrung“ im Kulturministerium eingeschärft worden, dass sie keinen Kontakt zu Bürgern aus dem so genannten Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet (NSW) aufnehmen dürften, sagt Wylezol. Eine absurde Vorschrift, denn der Pultnachbar im Orchester, mit dem man schließlich kommunizieren musste, konnte ein Österreicher oder Schwede sein.
Kulturschock West-Berlin
Die Ahnung, stets von Stasi-Informanten beobachtet zu werden, begleitete die jungen Musiker auf allen Reisen. „Anders als die Tschechen hatten wir zwar keine offiziellen Aufpasser“, erklärt Selditz, der an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin studierte. „Das DDR-Kulturministerium war trotzdem über alles im Bilde.“ Die Eindrücke im westlichen Ausland lösten bei dem Bratscher und seinen Kollegen einen Kulturschock aus. Besonders intensiv wirkte der Kontrast zwischen den beiden Teilen Berlins. „Bei uns waren auf Stadtplänen Bezirke wie Friedrichshain, Pankow oder Marzahn fein säuberlich eingezeichnet. Das Gebiet jenseits der Mauer war dagegen eine rot schraffierte Fläche, als ‚Berlin-West‘ bezeichnet“, sagt Wylezol. Als er vor Beginn der dreiwöchigen Probenphase in der Philharmonie die innerstädtische Grenze passierte, fiel ihm auf der anderen Seite sofort die Farbigkeit der Leuchtreklamen ins Auge. „Um diesen extremen Bruch zwischen Ost und West zu verarbeiten, bin ich mit meinem Visum zwischendurch immer wieder zurück über die Grenze gefahren, um meine Eltern in Ost-Berlin zu besuchen.“
Als „Kulturstadt Europas“ präsentierte sich West-Berlin im Sommer 1988 mit einem breit gefächerten Programm aus Konzerten, Kunstausstellungen, Theater und Tanz. Abbado dirigierte nicht nur das Gustav Mahler Jugendorchester, sondern auch das European Community Youth Orchestra, dessen Mitglieder aus den damals zwölf EG-Mitgliedsstaaten Arnold Schönbergs „Gurre-Lieder“ einstudierten. Alle Musiker waren im selben Hotel untergebracht und trafen sich zum Essen in einem großen Spiegelzelt neben der Philharmonie. Nach der intensiven Probenarbeit mischte sich Abbado oft unter die jungen Leute, das Verhältnis war bei allem Respekt für den großen Dirigenten locker und freundschaftlich. „Vor dem Zelt habe ich einmal gegen Abbado im gemischten Doppel Tischtennis gespielt“, erzählt Wylezol. „Gleichzeitig machten Österreicher mit Kollegen aus dem EG-Orchester Blasmusik. Über alle Sprachgrenzen hinweg haben wir uns durch die Musik fabelhaft verstanden, jeglicher politische Ballast war von uns abgefallen.“
Nach der Frühjahrstournee 1988, die vom slowakischen Pieštany über Bratislava, Budapest, Wien und Graz nach Prag führte, ging es im Sommer von Berlin aus nach Amsterdam, Salzburg, Interlaken, Frankfurt am Main und schließlich nach Bozen. Dort gastierte Abbado bereits seit Anfang der 1980er-Jahre regelmäßig mit dem EG-Orchester. 1987 wurde Bozen „Residenzstadt“ des Gustav Mahler Jugendorchesters, das in Südtirol seitdem viele Probenphasen verbringt. Zwölf Jahre später entstand in Bozen auf Betreiben Abbados die Mahler Akademie, an deren Kursen bereits mehr als tausend Musiker aus ganz Europa teilgenommen haben. „Bei uns treten nach wie vor drei Jugendorchester auf – das inzwischen in EUYO umbenannte ECYO, das GMJO und das Orchester der Akademie“, erklärt Bürgermeister Renzo Caramaschi, in der Gemeinde damals verantwortlich für die Bereiche Finanzen und Kultur.
Ruhepol Abbado
An die Proben und Auftritte in Bozen erinnert sich auch Franziska Drechsel noch gut. Die Geigerin aus Leipzig, die im Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) spielt, kam 1989 in das Gustav Mahler Jugendorchester. Im Frühjahr des Jahres reiste sie zum ersten Mal durch das westliche Ausland, von Oberschützen im Burgenland zu Städten wie Linz, Graz, Mailand, Mantua und Wien. „Die Arbeit mit Abbado hat mir von Anfang an sehr gefallen“, berichtet sie. „Er strahlte eine große Ruhe aus. Ich war vorher ziemlich aufgeregt, weil ich noch nie in einem großen Orchester mit so vielen Mitgliedern aus verschiedenen Ländern gespielt hatte.“ Die Vorliebe des Dirigenten für Kammermusik hat ihr viele neue Anstöße vermittelt. „Ein transparentes Orchesterspiel war ihm immer wichtig. Er legte großen Wert darauf, dass alle Musiker aufeinander hörten. Durch ihn haben wir auch gelernt, sehr leise zu musizieren.“ Außer Abbado standen in jenen Jahren Dirigenten wie Franz Welser-Möst, Manfred Honeck, Marc Albrecht, James Judd und Václav Neumann am Pult.
Auch wenn sich die Wege des GMJO immer wieder mit denen des ECYO kreuzten, kam es erst nach der Wende im Dezember 1991 zu einer richtigen Zusammenarbeit. Für ein einziges Projekt vereinten sich beide Orchester je zur Hälfte zum „Youth Orchestra of a United Europe“. Nach einem Konzert im damaligen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, das 1994 in Konzerthaus Berlin umbenannt wurde, traten die Musiker mit Abbado, der Geigerin Viktoria Mullova und dem Pianisten Jewgeni Kissin wenige Tage vor der Auflösung der Sowjetunion in Moskau und St. Petersburg auf. „Kurz nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs nach Russland zu fahren, war ein großes Abenteuer“, sagt der Geiger Oliver Kipp, der im ECYO spielte und inzwischen Stimmführer der 2. Violinen bei der NDR Radiophilharmonie in Hannover ist. „Abbado lud uns zum Musizieren ein und hat uns dabei so geschickt geleitet, dass sich bei den Konzerten die ganze Wucht unserer Gefühle entladen konnte. Meinem Eindruck nach war er ein Meister der Menschenführung.“
Auch der Geiger Eckhart von Hahn, heute Manager in einem Software-Konzern, hat sich lebendige Erinnerungen an die Konzerte in Russland bewahrt: „Es war so, als würde sich Abbado in ein Meer aus Musik stürzen und uns mit sich reißen.“ Auf dem Kreml sah von Hahn die sowjetische neben der russischen Flagge wehen. „Wir haben in Moskau zwei Konzerte gespielt – bei dem einem war Michael Gorbatschow und bei dem anderen Boris Jelzin anwesend.“
Während sich das EG-Orchester nach der Gründung der Europäischen Union umbenannte und inzwischen Mitglieder aus 28 Ländern aufnimmt, öffnete sich das GMJO ab 1992 für Musiker aus ganz Europa. In dem Jahr kam die ungarische Bratscherin Ilona Balint in das Orchester, das als kultureller Mikrokosmos bereits vor dem Mauerfall gewissermaßen die EU-Osterweiterung vorweggenommen hatte. „Mit 19 Jahren war es für mich eine unglaubliche Erfahrung, einen ehemaligen Ostblockstaat verlassen und mit Gleichaltrigen aus dem Westen musizieren zu können. Das, was ich in meiner Jugend im Mahler Orchester gelernt habe, prägt mich bis heute“, sagt Balint, die im Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom spielt.
Der Traum von Europa
Das Gustav Mahler Jugendorchester hat die Grenzen Europas seither immer weiter ausgedehnt. An der diesjährigen Sommertournee sind 122 Musiker aus 24 Ländern beteiligt – auch aus Serbien, der Ukraine, Israel und Armenien. Mit dem Schweizer Dirigenten Lorenzo Viotti, Gewinner des Salzburg Festival Young Conductors Award 2015, trat das Orchester in Bozen, Salzburg, Prag, Amsterdam, Hamburg, Dresden und Pordenone auf.
Das European Union Youth Orchestra wird dagegen schon in naher Zukunft auf Mitglieder aus Großbritannien verzichten müssen. Wegen des bevorstehenden Brexits hat es seinen Sitz von London in die norditalienische Stadt Ferrara verlegt, in der Abbado 25 Jahre lang bis zu seinem Tod 2014 wirkte. Mit dem südkoreanischen Pianisten Seong-Jin Cho und dem italienischen Dirigenten Gianandrea Noseda, ab Herbst 2021 neuer Generalmusikdirektor der Oper Zürich, trat das EUYO im August in Bozen, Warschau, beim Festival Young Euro Classic in Berlin sowie in Amsterdam und London auf.
„Der Traum von Europa darf nicht sterben“, sagt Renzo Caramaschi. „Diese jungen Menschen aus allen Ländern des Kontinents sind der Beweis dafür, dass Europa eine Zukunft hat.“