Igor Strawinsky hat einmal, im Jahr 1955, über den 1945 durch einen tragischen Irrtum erschossenen Komponisten Anton Webern geschrieben: „Wir müssen nicht nur diesen großen Komponisten verehren, sondern auch einen wirklichen Helden. Zum völligen Misserfolg in einer tauben Welt der Unwissenheit und Gleichgültigkeit verurteilt, blieb er unerschütterlich dabei, seine Diamanten zu schleifen, seine blitzenden Diamanten, von deren Minen er eine so vollkommene Kenntnis hatte.“
Einiges von dieser Aussage ließe sich auch auf den 1916 im französischen Angers geborenen Komponisten Henri Dutilleux übertragen, der am 3. Juni in München den mit 150.000 Euro dotierten Ernst von Siemens Musikpreis 2005 erhielt (Webern freilich wurde eine ähnliche Auszeichnung nie zuteil). Denn die Musikgeschichte ist auf merkwürdige Weise an ihm vorübergegangen – oder sollte man besser sagen, Dutilleux ist an ihr vorübergegangen? Seit der Première Symphonie des 35-Jährigen von 1951, in der sich der ganz eigenwillige Ton von Dutilleux anzudeuten begann, sind gerade einmal 20 Werke entstanden. Als eigentlicher Durchbruch gilt die 1959 entstandene Deuxième Symphonie mit dem Beinamen „Le Double“. Drängt sich hier ein Vergleich zu Anton Bruckner auf, der auch erst mit 40 Jahren zu seinem bestürzend einzigartigen Ton fand?
Olivier Messiaen, der große Vater der französischen Moderne, hat einmal geäußert, Dutilleux habe zwar nur wenige Stücke geschrieben, jedes davon aber sei ein Meisterwerk. Besser ist die Rätselerscheinung Dutilleux nicht zu beschreiben. Wirklich weist die Liste seiner Kompositionen immer wieder große zeitliche Lücken auf, manchmal sind es mehrere Jahre. Immer freilich wurde das Warten belohnt. Denn Unwesentliches mochte Dutilleux nicht schreiben – für das Wesentliche aber brachte er ein kompositorisches Rüstzeug mit, das metaphysisch in alle Tiefen zu steigen in der Lage war.
„Es ist kein Scherz, Musik zu schreiben. Tiefe ist dazu nötig: eine Art Mystik“, umriss er selbst einmal sein schöpferisches Anliegen und setzte hiermit eine Spitze gegen die Trends von Easy-Living oder Easy-Listening. Seine reifen Werke, also die Arbeiten der letzten 50 Jahre, kreisen um Phänomene von Raum und Zeit, um das Mysterium ihrer gegenseitigen Durchdringung. Ansätze französischer Philosophie und Literatur, wir denken unter anderem an Henri Bergson oder an Marcel Proust, aber auch Momente eines traumnahen Surrealismus sind immer wieder in seinen Werken auszumachen. Damit stand Dutilleux abseits von den Debatten um eine serielle Musiksprache, die in den 50ern von den jüngeren Komponisten so vehement geführt wurde. Er verfolgte sie, nahm daran kritisch Anteil, und erkannte wohl bald Engen, die seiner Art in Musik zu denken nicht gemäß waren.
Zugleich gelang es Dutilleux, die musikalischen Mittel, insbesondere Phänomene klangfarblicher Symbolik, auf geheimnisvoll intensive Art mit dem Inhalt seiner Musik zu verschmelzen. Hier aber muss man vorsichtig sein: Inhalt als außermusikalische Komponente oder Vorgabe lehnte Dutilleux stets ab. Doch im Inneren der Musik, in den Kräfteparallelogrammen von Klang, Farbe und Linie glüht es in sprechender Intensität. Die Werke bestechen durch eine geradezu magische Erzählkraft, die ihre Wurzeln in einem nur ihm eigenen Amalgam aus Harmonik und Klangfarbe hat. Gerne verweist Dutilleux immer wieder darauf, dass er musikalisch sowohl deutsch als auch französisch ausgebildet wurde, vielleicht rührt das eigentümlich Schwebende und zugleich Erdnahe seiner Musik von da her. Jeder Ton hat für ihn Gewicht, lebt in einer Welt von Spiegeln und irisierendem Licht, jeder verweist in Urgründe des Mythos und spielt mystisch mit den Täuschungsmanövern der Erinnerung. Davon, von der kryptisch verborgenen Inhaltlichkeit, lassen schon einige Titel seiner Werke ahnen. Ein Cellokonzert hat den Titel „Tout un monde lointain“, ein Streichquartett „Ainsi la Nuit“, ein Orchesterwerk ohne Violinen und Bratschen „Timbres, Espace, Mouvement“, ein Violinkonzert „L’Arbre des Songes“, ein Streicherstück „Mystère de l’Instant“ und das großartige Orchesterwerk (mit drei Kinderstimmen) von 1997 heißt „The Shadows of Time“.
Die Schatten der Zeit, das sind Erinnerungen, Verblichenes, das sind eingegrabene Bilder, die in ihrer Symbolkraft die Zeiten überdauern, das ist aber auch das stoische Ticken des ewigen Uhrwerks, mit dem das Stück anhebt und schließt. Im mittleren Satz „Mémoire des ombres“ treten wie fremde Erscheinungen Kinderstimmen hinzu. „Warum wir? Warum der Stern?“, fragen sie. Dutilleux widmete diesen Satz „Anne Frank und all den unschuldigen Kindern dieser Welt“. Schicksale wie diese drücken „unserer“ Zeit, die gar nicht unsere ist, in die wir hineingeworfen sind, den Stempel auf.
Dutilleux war keine nahe liegende Wahl. Er ist eine abseits stehende Größe. Aber er ist seinen Weg mit niemals schwankender Selbstverständlichkeit gegangen und gehorchte nur seinem Ohr, seinem inneren Sensorium. Die Frage, ob er damit hinter den avantgardistischen Bemühungen seiner Zeit zurückblieb, stellte sich ihm nie. Und er blieb nicht zurück, sondern ging einen anderen, vielleicht parallel verlaufenden Weg. Freilich hat er nie das musikalische Werk selbst in Frage gestellt, Zufallsverfahren, Happening, Konzeptkunst blieben ihm fremd, für ihn waren dies kurzatmige Ansätze. Aber im Hinblick auf die bedeutungsschwere, magische Gestaltung des Klangs ging er an Grenzen und entdeckte reiches Neuland. Der Ernst von Siemens Musikpreis will ja nicht nur Persönlichkeiten des Musiklebens auszeichnen, ein Preis dieses Formats hat auch die Pflicht, Zeichen zu setzen. Dass er mit Dutilleux nicht nur auf eine Person verwies, sondern auch auf die Unerschütterlichkeit seines zwar geachteten, doch einsam zu beschreitenden Werdegangs, verleiht der Auszeichnung zusätzlichen Sinn.
Es bewahrheitete sich auch diesmal: Die Verleihung des Ernst von Siemens Preises wird so, wie der Ausgezeichnete ist. Dutilleux ist einer, der zurückgezogen abseits steht, der lieber schweigt und alles mit skeptischem Blick verfolgt, der skrupulös genau arbeitet, der sich seiner Sache sicher ist, obwohl sein öffentliches Auftreten immer noch kräftige Spuren von Nervosität zeigt. Dennoch fühlte er sich in seiner Dankesrede gedrängt zu sagen, dass er die Reaktionen auf das strenge serielle Denken, also den Postmodernismus, die neue Einfachheit, die Neotonalität nicht sonderlich schätzt. Auch er hatte die auf Spezialistentum abzielenden Verhärtungen eines Boulez oder Stockhausen in den 50er- oder 60er-Jahren nicht begrüßt, doch der Pendelschlag zurück sei eine zwar verständliche, keineswegs aber die richtige Antwort.
Dutilleux sei in der Musikgeschichte um 1950 am anderen Ufer aufgebrochen, meinte der Laudator, der französische Musikwissenschaftler Dominique Jameux. Während die jungen Wilden alles Traditionelle abgelehnt hätten, sei der zehn Jahre ältere Dutilleux in der Tradition groß geworden. Doch heute hätten sich Dutilleux und sein Gegenüber Boulez beide in der Mitte des Stromes getroffen. Das ist kein ganz schlechtes Bild und Jameux setzte noch ein Zitat von André Gide oben auf: „Es ist gut, dem Hang zu folgen, vorausgesetzt er führt nach oben.“ Und wie sehr er nach oben führen kann, veranschaulichte danach nachdrücklich das Arditti Quartet, als es Dutilleux’ Streichquartett „Ainsi la nuit“ spielte. Drei Jahre hat der Komponist an diesem siebzehnminütigen Stück geschrieben und hat damals wegen dieser Arbeit einen Opernauftrag ablehnen müssen. Welcher andere Komponist hat solchen konsequenten Mut? Das Quartett freilich gab ihm alles zurück. Man hört die fein durchgehörte Genauigkeit, das filigrane Schleifen am Gegenstand. Und sicher brauchte es auch etliche Zeit, um dem ganzen Stück den Charakter eines verblüffend selbstverständlichen Gefüges zu verleihen.
150.000 Euro erhält Dutilleux als Auszeichnung für sein Lebenswerk. Dies aber, gerne wird das übersehen, ist nur ein Zehntel der Summe, die der Ernst von Siemens Musikpreis ausschüttet. Drei Förderpreise gingen an den wendigen, längst auf den Festivals der Moderne heimisch gewordenen, hoch talentierten Holländer Michel van der Aa sowie an die deutschen Komponisten Philipp Maintz und Sebastian Claren, deren kurze Werksproben durchaus aufhorchen ließen, auch wenn man bei den beiden Deutschen wohl noch nicht recht sagen kann, wohin die schöpferische Reise gehen wird. Auch abzüglich dieser Summen bleibt immer noch ein stattlicher Rest, weit über eine Million Euro, an Finanzmitteln, die projektbezogen eingesetzt werden. Es ist inzwischen vielleicht das verdienstvollste Feld des Ernst von Siemens Musikpreises. Denn parallel zur rückblickenden Auszeichnung eines Lebenswerks werden Grundlagen für das Weitermachen geschaffen.