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Am Synthesizer: Erhard Karkoschka. Foto: Hans Kumpf
Am Synthesizer: Erhard Karkoschka. Foto: Hans Kumpf
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Unverminderte Aktualität von Werk und Wirken - In Gedenken an Erhard Karkoschka

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Sein Tod am 26. Juni 2009 blieb nahezu unbemerkt. Seine Werke sind – bis auf Programme der Eurythmie-Tänzerin Diana-Maria Sagvosdkina – nur noch selten zu hören. Dabei war Erhard Karkoschka nicht nur der wichtigste Vertreter zeitgenössischer Musik in Stutt­gart vor Helmut Lachenmann. Hier lehrte er seit 1948, gründete 1962 das Ensemble für Neue Musik und 1973 das Studio für elektronische Musik.

Als Verfasser des Standardwerks „Das Schriftbild der Neuen Musik“ ist er weltweit bekannt. Aber Notation war für Karkoschka kein Dogma. Sie war Mittel zum Zweck, und gerade deshalb interessierte sich der Komponist für alternative Notationsweisen: weil sie einen Versuch darstellen, in Klangregionen vorzustoßen, welche die konventionelle Notation nicht erreicht. Ebenso sehr interessierte er sich aber für Musikrichtungen, die ganz ohne Notation auskommen: elektronische Musik, Improvisation oder außereuropäische Musikformen. Es ist diese ungewöhnliche Offenheit, die seinem Werk und Wirken auch heute noch eine unverminderte Aktualität verleiht.

Er erzählt von schwarzen Straßenmusikern in New York – es könnte 1968 gewesen sein, als er dort auf dem Notationskongress sprach –, die von der Polizei vertrieben wurden. Karkoschka ging auf die Beamten zu, er sei Musikprofessor aus Deutschland, ob sie nicht hören könnten, dass dies hervorragende Musiker seien? Die Musiker selbst meinten später, diskutieren hat keinen Sinn, sie verschwänden lieber um die Ecke und kämen anschließend wieder.

1971 veröffentlichte Karkoschka einen Aufsatz über „Aspekte der Gruppenimprovisation“, der auf eigene Erfahrungen verweist und viel weiter geht als das meiste, was zu diesem Thema geschrieben wurde. Für den Musikwissenschaftler Karkoschka, dessen Laufbahn mit der Webern-Analyse beginnt, steht Improvisation am Beginn jeder musikalischen Tätigkeit. Doch unterscheide sich ihre Funktion in der klassischen europäischen, der indischen Musik oder im Jazz. Er betont die Bedeutung der Improvisation für die Musikpädagogik. Schönbergs wichtigster Anstoß liegt für ihn weniger in der Zwölftontechnik, als vielmehr in der Idee einer Klangfarbenmelodie: Klangfarbe und Zeit sind jedoch nicht exakt notierbar.

Während Karkoschka 1973 unter beengten Verhältnissen das Studio für elektronische Musik aufbaute, unterstützte er zugleich seinen Schüler Bernd Konrad bei der Gründung des Studiengangs Jazz – des zweiten an einer deutschen Hochschule. Durch José Maceda kam er 1978 nach Manila und schrieb dort das Orchesterwerk „Teleologies“, das auf die Diskussion über die „offene Form“ antwortet: „Was sonst als offene Form gepriesen wird, kommt ja nicht aus den Konventionen der Neuen Musik heraus.“ Eine kleine Gruppe philippinischer Musiker spielt am Ende eigene Musik, das Orchester steht auf und tanzt. Die Komposition war Karkoschka so wichtig, dass er sie noch 2006 überarbeitete: Die Uraufführung der Neufassung unter der Leitung von Peter Hirsch, in der nun das Orchester die philippinische Melodie übernimmt, pries Karkoschka als „die beste, die es je von einem meiner Orchesterwerke gegeben hat“, äußerte aber im Detail dennoch Kritik. Sein Urteil blieb bis zuletzt treffsicher: So begeisterten ihn im selben Jahr beim ISCM World New Music Festival Werke von Sandeep Bhagwati oder Liu Mang, andere ließen ihn eher gleichgültig.

Er erzählt von Kriegserlebnissen, einem russischen Soldaten: Karkoschka kann nicht auf ihn schießen, der andere schießt ihm daraufhin nur ins Bein. Bei minus dreißig Grad soll ihn ein Schlittenführer ins Lazarett bringen. Der lacht dem Befehlshaber ins Gesicht und sagt: „Den schmeißen wir nach 100 Metern in den Graben.“ Schließlich wird er von einem Arzt im Auto mitgenommen, der ihm sogar eine Sardinenbüchse spendiert. Er trifft einen Bekannten seines Bruders, der seinerseits das Krankenhaus in Lwów aufgebaut hat. Dieser wird später hingerichtet, weil er sagt: „Deutschland verliert den Krieg.“ Karkoschkas Offenheit hat auch mit diesen Erlebnissen zu tun – mit einer Rebellion gegen Zwang und Monokultur.

Seine eigenen Werke sind nicht etwa einem bestimmten Idiom Neuer Musik verpflichtet. In seinem Blockflötenquartett „IN QUARTO: papafrebe“ (1998) verwendet er im zweiten Satz einen gregorianischen Choral, den vierten kommentiert er so: „‘Caprice Impertinent‘: Tangohaftes … ein nicht passender Blues, trotzdem dazu … ein noch unpassenderer Bebop, auch dazu … das kann nicht gut gehen …“. Und den fünften: „‚Fugue baroque‘: gegen Regel-treue sture Unisono-Stöße, dann auch pure Percussion … eine würdige Doppelfuge … aber dazu der Bebop aus dem vorigen Satz – welche Mesalliance!“

Karkoschkas Schüler sind über die ganze Welt verstreut und auf verschiedenen Gebieten tätig: Besonders schätzte er den Chilenen Andreas Bodenhöfer, ebenso Wolfgang Hamm, der auf seinem Label „Eigelstein“ Heiner Goebbels, aber auch die ersten LPs der Kölsch-Rock-Gruppe BAP veröffentlicht hat, Hörspiele und Filmmusik schreibt und in Lateinamerika und Afrika, Tuva, Bali und Nordschweden Musik aufnimmt. Ulrich Süße und Jürgen Bräuninger brachten die Neue Musik nach Durban. Shirui Zhus Dissertation über die moderne chinesische Musik, aber auch manche seiner Werke verdanken Karkoschka wesentliche Anregungen. Otto Kränzler hat als Tonmeister unter anderem elektronische Werke von Eötvös, Hölzsky, Lachenmann, Kagel und Stockhausen produziert, Hard- und Software für IRCAM in Paris entwickelt und als Mitbegründer und Werkstattleiter des Stuttgarter Künstlerhauses zahllose künstlerische Arbeiten und Klanginstallationen betreut. Mathias Spahlinger ist wie Karkoschka selbst ein brillanter Analytiker und Anhänger der Improvisation.

Um Karkoschka selbst mag es still geworden sein – seine Anregungen leben fort.

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