Was die Musik im Innersten zusammenhält – ob nun konsonante harmonische Verbindungen oder ein überschaubarer Vorrat von zwölf Tönen –, das war einmal. Viel stärker scheint sie heute von ihren inneren Sprengkräften, den mutigen Erweiterungen von einst eng gezogenen Grenzen des Tonsystems bewegt zu werden. Sascha Lino Lemke, der im August den mit 20.000 Euro dotierten Paul Hindemith-Preis erhielt, möchte man in diesem Sinne einen komponierenden Sprengmeister nennen, einen der besonders sensiblen, mit Bedacht kalkulierenden Art freilich.
Der 1976 in Hamburg geborene Komponist ist Absolvent der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, hat hier im Besonderen bei Peter Michael Hamel studiert. Ersten Kompositionsunterricht erhielt er indes bereits mit elf Jahren bei Kurt Fiebig. Nach der „Studienvorbereitenden Ausbildung“ an der Staatlichen Jugendmusikschule Hamburg mit dem Hauptfach Blockflöte und Nebenfach Klavier war er von 1994 bis 1997 Jungstudent für Theorie/Komposition bei Reinhard Bahr, bis er 1997 sein ordentliches Studium bei Hamel aufnahm.
Seinen Horizont hat er kontinuierlich erweitert: Starke Inspiration erhielt er durch mehrmalige, durch Stipendien geförderte Aufenthalte in Paris, zunächst am „Conservatoire national supérieur de musique et de danse de Paris“, wo er 2002/03 Komposition bei Frédéric Durieux, Elektronische Musik bei Luis Naón, Yann Geslin und Tom Mays sowie Instrumentation bei Marc-André Dalbavie studierte. Dann am berühmten „Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique“, dem IRCAM, jener internationalen Hochburg der Neuen Musik, wo er 2004/05 für einen einjährigen Computermusik- und Kompositionskurs eingeladen wurde. Für den Sommer 2009 erhielt er ein Stipendium für die Casa Baldi in Italien. Lemke wirkt heute als Dozent für Musiktheorie, Gehörbildung, Analyse und Multimedia an den Musikhochschulen in Hamburg und Lübeck, arbeitet an der Hamburger Hochschule zudem als Change-Manager für e-Learning.
Das Konzert aus Anlass der Preisverleihung – es fand traditionell festlich im Reinbeker Schloss und eingewoben in das Programm des Schleswig-Holstein Musik Festivals 2010 statt – eröffnete der neuerlich ausgezeichnete Komponist mit einem seiner vielen von Entschiedenheit und kluger Konstruktivität lebenden Werke: Wahrhaft eisige Geigenklänge wollten sich da gleichsam unter die hörende Haut schleichen, um dort zu gezielten Implosionen zu führen, zu zerbersten in tausendundeinen Klangsplitter. Listig falsche Fährten legend hat der junge Tonsetzer sein 2001 entstandenes Opus „Spanische Ouvertüre für zwei Violinen con scordatura“ benannt. In diesem Werk erforscht er die mikrotonalen Möglichkeiten einer einfachen obertonspektralen Skordatur: Sie beruht darauf, dass die acht Saiten der beiden Geigen auf den 4., 5., 6., 7., 9., 11., 13. und 15. Oberton des virtuellen Grundtones Kontra-F umgestimmt werden. Auf diese Weise können die Interpreten präzise Mikrotöne spielen, ohne sie mühsam nach Gehör greifen zu müssen, denn es kommen fast ausschließlich leere Saiten und Naturflageolett-Töne zum Einsatz. Kurz vor Ende sprengt Lemke sein Werk dann selbst: Unvermittelt bricht hier spanisches Volksgut in die Avantgarde-Tonwelt hinein; eine gezupfte Flamenco-Passage verlangt von den beiden kühl kalkulierenden, sich ganz der Neuen Musik verschreibenden Geigerinnen Lisa Lammel und Joo-Hyun Kang, zu heißblütigen Gitarristinnen des Südens zu mutieren, wenn sie schließlich glissandoartig sich verschiebende spektrale Akkorde spielen. Sich tönend verwandelnden Aggregatzuständen gleich bringen sie so das nordische Eis in Blitzesschnelle zum Schmelzen.
Sascha Lino Lemke hat ein ausgeprägtes Faible für die Verbindung instrumentaler und elektronischer Klang-erzeugung. Neben rein instrumentalen Werken für verschiedene kammermusikalische Besetzungen und seinen Orchester- und Ensemblekompositionen bildet die Beschäftigung mit elektronischen Medien einen Schwerpunkt seiner künstlerischen Tätigkeit. Dabei fällt sein neuartiges Aushören des vielsagenden Zwischenreiches von Worten und Tönen auf, wie es im Preisträgerkonzert in seinem 2007 entstandenen, für Querflöte und Elektronik geschriebenen „Hellerau lesen – 4 persönliche Transkriptionsversuche“ offenbar wurde: Angeregt durch die bekritzelten Wände im nahe Dresden gelegenen Festspielhaus Hellerau hat Lemke Textsplitter des linken Seitenstudios ausgewählt, die sich die Flötistin nun nach und nach zu eigen macht, die der Musik also gleichsam eingeschrieben werden. Immer stärker drängen sich die Worte in die musikalische Textur. Schließlich dirigierte der junge Komponist selbst souverän seine sich auf Debussys Prélude beziehenden „Les fées sont d’exquises danseuses“ für Flöte, präpariertes Klavier und Streichtrio con scordatura. Mit dem auf meist untemperierte Obertöne gestimmten Klavier und den mikrotonal umgestimmten Streichern ist das Werk ein weiteres Beispiel seiner neugierigen Erkundung der „Zwischenräume“ des klassischen Tonvorrats.
In seiner launigen Laudatio bezog sich Hermann Rauhe, Ehrenpräsident der Hamburger Musikhochschule, hernach auf Paul Hindemith selbst, der Komponieren einmal als ein „Forschen mit Tönen“ bezeichnet hat. Das Diktum könne als Motto des Schaffens von Lemke gelten, befindet Rauhe: „Als leidenschaftlicher Vollblutmusiker begibt er sich immer wieder auf neue einladende Wege in unerforschte Gebiete. Lemke ist unerschöpflich in der Erfindung neuer Besetzungen und Klangkombinationen.“ Hermann Rauhe betonte Lemkes „Suche nach neuen grenzüberschreitenden Ausdrucks- und Vermittlungsformen. Sein Interesse für Literatur, bildende Kunst, Malerei, Architektur führt dazu, dass er sich immer wieder durch außermusikalische Eindrücke anregen und inspirieren lässt.“ Die Lobesrede sowie Lemkes Lust am Innovativen wurden dank der interpretatorischen Überzeugungskraft und Virtuosität des trio sonar, der Flötistin Hanna Petermann und der Pianistin Tanja Noters eindrucksvoll belegt.