Musikalische Träume, potenzielle Staatsfeindin, Leben im Stillstand, Klassikzirkus-Abwehr – Franziska Pietschs problematische deutsch-deutsche Lebensgeschichte steht auch in ihrer künstlerischen Vita, weil die Musik für die Geigerin überlebenswichtig war und es immer noch ist.
Ein heiserer Ton. Der Bogen zieht ganz langsam über die Saite, die Violine erzählt von stillem Leiden. Ein Akzent wie eine Schrecksekunde, eine Dissonanz als emotionale Erschütterung. Dimitri Schostakowitschs 1968 komponierte Violinsonate ist ein Nachhall seines in ständiger Angst verbrachten Lebens. Der russische Komponist schlief im Mantel. Ein gepackter Koffer stand unter dem Bett, weil er ständig damit rechnete, dass er in ein Arbeitslager nach Sibirien abtransportiert werden würde – oder gleich erschossen. Der zweite Satz der Sonate op. 134 ist eine einzige Panikattacke. Josu de Solauns harte Klavierschläge lassen an Brutalität denken. Franziska Pietsch spielt die atemlosen Sechzehntel auf ihrem Album von 2019 mal gebunden, mal gesprungen, als hätte sie die Kontrolle über ihren Bogen verloren: wild, hysterisch, aufgescheucht. Auch die 51-jährige Geigerin hatte jahrelang Alpträume, dass jemand an die Tür klopft und sie abholt. Schostakowitschs Musik ist ihr nah, weil auch sie in einer Diktatur groß geworden ist und die Dringlichkeit seiner musikalischen Sprache versteht. Die Sonate hatte der Komponist für David Oistrach zu seinem 60. Geburtstag geschrieben. Als fünfjähriges Mädchen hörte Franziska Pietsch den russischen Geiger in Ostberlin – und war von seinem Ton so berührt, dass sie auch dieses Instrument lernen wollte. Es begann eine Karriere als Wunderkind in der DDR, die von einem Tag auf den anderen ein jähes Ende fand, nachdem ihr Vater nach einer Streichquartetttournee im Westen geblieben war. Das Vorzeigemädchen geriet als potenzielle Staatsfeindin unter Verdacht.
Franziska Pietschs problematische deutsch-deutsche Lebensgeschichte steht auch in ihrer künstlerischen Vita, weil die Musik für die Geigerin überlebenswichtig war und es immer noch ist. Derzeit kann sie ihren Beruf nicht ausüben. Geldsorgen hat sie aber keine, weil sie mit einem Arzt verheiratet ist. Im Videogespräch zeigt sie sich nachdenklich. „Im Gegensatz zu vielen Kollegen habe ich es schon einmal erlebt, wenn das Leben von heute auf morgen zum Stillstand kommt. Diese Erfahrung in der DDR hilft mir jetzt. Zweieinhalb Jahre habe ich damals durchgestanden, bis die Familienzusammenführung bewilligt wurde. Man darf die Hoffnung nicht verlieren.“ An der öffentlichen Diskussion in der Coronapandemie stört sie, dass die Ängste einen zu großen Raum einnehmen. „Alles ist fokussiert auf die rein physische Gesundheit. Die seelische und geistige Gesundheit wird viel zu wenig diskutiert.“ Besonders schmerzt sie, dass die Kultur und speziell die Musik in der Krise so wenig Wertschätzung von der Politik erfahre. Man sei sich gar nicht des kulturellen Reichtums bewusst, von dem man in Krisenzeiten zehren könne. „Durch die Musik begegnen sich Menschen. Diese Kommunikation, dieser seelische Kontakt ist enorm wichtig.“
Zweieinhalb Jahre lang war die Musik von Johann Sebastian Bach und Dimitri Schostakowitsch das einzige, was der damals Vierzehnjährigen Halt gab. Zu dieser Zeit hatte sie schon einen wichtigen Wettbewerb in der DDR gewonnen und war bereits in der Violinklasse von Werner Scholz an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Ostberlin. Als Mitglieder des Rundfunksinfonieorchesters Berlin durften die beiden Violine spielenden Eltern reisen und brachten ihr und der jüngeren Schwester von den internationalen Konzerttourneen Süßigkeiten mit, die für ein Jahr rationiert wurden. Einige Lebensmittel schmuggelte man in Kontrabasskästen in die sozialistische Heimat. Und mit den Devisen, die sie nicht abgeben mussten, ging die Familie in einen Intershop, um West-Schokolade und Kaffee zu kaufen. „Aus heutiger Sicht waren die Geschäfte vielleicht so groß wie ein Kiosk“, erinnert sich die Geigerin. „Aber es roch sehr gut – ein ganz anderer Duft als in der DDR. Da roch es immer schrecklich.“
Die Pietschs waren privilegiert im Arbeiter- und Bauernstaat und genossen ihre kleinen Freiheiten. Von den Fluchtplänen des Vaters erfuhr Franziska am Vorabend der Tournee. Gemeinsam hätten beide Eltern nicht fliehen können, sonst wären die Kinder in ein Heim gekommen. In den zahlreichen Verhören musste das Mädchen verschweigen, dass sie von der Flucht des Vaters wusste. Wenn sie etwas verraten hätte, wäre die beantragte Familienzusammenführung chancenlos gewesen. Jede Woche hatte sie zum Violinunterricht zu gehen, durfte aber ihre Geige nicht auspacken. „Mein Professor fragte mich aus und sprach schlecht über meinen Vater. Diese warmherzige Vertrauensperson wurde über Nacht zum kühlen Handlanger des menschenverachtenden Systems. Das war für mich unbegreiflich.“ Mit niemandem konnte die Jugendliche über ihre Situation sprechen. Das Elternhaus wurde abgehört, sie selbst beschattet. Kraft fand sie in der Musik. Und in der Hoffnung, dass der Karlsruher Violinprofessor Ulf Hoelscher, der eines Nachts auf Vermittlung ihres Vaters bei ihnen zuhause klingelte, sie eines Tages in seine Klasse aufnehmen würde. „Das hat er mir versprochen, nachdem ich ihm vorgespielt hatte. Und mich umarmt.“
Zweieinhalb Jahre später wurde die Familienzusammenführung bewilligt. 24 Stunden Zeit hatte die Familie, um ihre Sachen zu packen. Nach einem Violinstudium in Karlsruhe ab dem Wintersemester 1986 und einem Aufbaustudium an der Juilliard School in New York entschied sich Pietsch erst einmal bewusst gegen eine solistische Laufbahn. „Ich fühlte mich in dem Klassikzirkus überfordert. Es ging nicht um mich als Mensch, sondern nur um meine Karriere.“ Als Konzertmeisterin in Wuppertal und Luxemburg suchte sie einen „unbelasteten Raum“ für sich, um ihre Vergangenheit verarbeiten zu können. Seit 2010 widmet sie sich der Kammermusik – und hat mit dem Klaviertrio Testore und dem Streichtrio Lirico, in dem ihre alte Berliner Schulfreundin Sophia Reuter Bratsche spielt, zwei Ensembles gegründet. Inzwischen steht sie auch wieder als Solistin auf der Bühne. Die Zeit heilt Wunden. Für das neue Jahr erhofft sie sich, dass sie und ihre Kollegen wieder mit den Menschen in Kommunikation treten dürfen. „Wir haben alle eine Verantwortung für unsere Kultur. Diesen Schatz dürfen wir nicht verlieren. Wir brauchen sie auch, um die gespaltene Gesellschaft wieder näher zusammenzubringen.“ Auf der aktuellen CD spielen Josu de Solaun und Franziska Pietsch Violinsonaten französischer Komponisten. Nach den dunklen, kühlen Abgründen und scharfen Kontrasten Schostakowitschs dominieren hier warme Farben und feine Nuancen. Weich und erzählerisch beginnt das Andante von Gabriel Faurés erster Violinsonate in A-Dur, dem Franziska Pietsch in der Höhe Glanz verleiht. Francis Poulencs Sonate hat Konzentration, Zwischentöne und Energie. Keine schlechte Kombination für 2021.
- Aktuelles Album: Fantasque. Violinsonaten von Fauré, Debussy, Ravel und Poulenc, Franziska Pietsch (Violine), Josu de Solaun (Klavier), audite